Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Geschichte oder eine schöne Geschichte?
Am 30. September feiert Solothurn den St. Ursentag; ein Patrozinium, das in seiner Entstehung weit ins Mittelalter zurückreicht. In diesem Jahr fallen die Feierlichkeiten mit dem 250-Jahr-Jubliäum von St. Ursen zusammen. Urs und Viktor, die «Hausherren» von St. Ursen, gehörten als Soldaten der sogenannten Thebäischen Legion an, die um 300 wegen ihres christlichen Bekenntnisses bei Saint-Maurice niedergemetzelt worden sein soll. Einen ersten schriftlichen Hinweis auf diese blutigen Ereignisse liefert uns Bischof Eucherius von Lyon im 5. Jahrhundert. Eucherius’ Aufzeichnungen sind jedoch keine historischen Quellen im heutigen Sinn, sie gehören eher ins Reich der Mythen. «Nur ein Mythos, bloss eine schöne Geschichte», könnte man nun ganz modern denken. Zu diesem Thema nehmen die Schweizer Historiker Werner Meyer und Angelo Garovi in ihrem aktuellen Werk «Die Wahrheit hinter dem Mythos. Die Entstehung der Schweiz» folgendermassen Stellung: «Nichts gegen Mythen, es sind ja eindrucksvolle Geschichten, wie sie fast alle Länder, Städte und Dörfer zur rückwirkenden Erklärung ihres Ursprungs kennen. Sie sollen helfen, das Gemeinsame in der Vergangenheit zu sehen.» Das passt auch zu Urs und Viktor, denn vermutlich hat es in Solothurn schon früh eine christliche Gemeinde gegeben, in deren Angedenken die beiden Märtyrer verehrt wurden. Für die junge Gemeinde war dieser Erinnerungskult ein erhaltendes Moment. Auf diese Art und Weise werden Mythen zu einer historischen Realität. Ihr Inhalt besteht aber nicht aus Fakten, sondern spiegelt politische oder religiöse Wertvorstellungen wider und stützt sich dabei auf literarische Traditionen. Mit dem Thebäer-Mythos versuchte man mit der geografischen Verbindungslinie Theben (Ägypten) – Zentraleuropa die zeitliche und geografische Distanz zwischen der Wiege des Christentums im östlichen Mittelmeerraum und dem Ausbreitungsgebiet des Christentums zu überbrücken. Zudem entstand eine erzählerische Verbindungslinie zur bedeutsamen Zeit der Christenverfolgung. Daraus entstand eine sinnstiftende Geschichte, die auch heute noch erzählt wird, denn wie heisst es doch so schön: Legenden sterben nie.
Mit feierlichen Grüssen
Reto Stampfli