Editorial

Mitreden können

Im «Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik» aus dem Jahr 1903 umschreibt Friedrich Paulsen den Begriff Bildung folgendermassen: «Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiss, und bei allen Dingen, von denen in Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann.» Aus unserer heutigen Perspektive erscheint diese Definition als eine auf das öffentliche Auftreten beschränkte Verkürzung. Über den Bildungsprozess – als eigentliche Voraussetzung – wird nichts ausgesagt; wie die entsprechenden Erziehungsmethoden und der Unterricht auszusehen haben, scheint bereits klar vorgegeben zu sein. Bildung hat man – oder man hat sie eben nicht. 

Schlägt man in einem aktuellen Lexikon den Begriff Bildung nach, dann fällt einem sofort auf, dass in den vergangenen Jahrzehnten der Bildungsprozess in den Mittelpunkt gerückt ist und das Resultat, in Paulsens Worten «das gesellschaftliche Mitreden», in einem erbitterten Wortgefecht in Stücke gehauen wurde. Was sollte eine Schülerin oder ein Schüler nach ihrer Ausbildung eigentlich wissen? Kannte man früher zu dieser Frage eine klare Antwort, so scheint heute ein babylonisches Stimmen- und Meinungsgewirr die disparatesten Voten hervorzubringen. Konservierende Kräfte beschwören in der Bildungsfrage das Schulsystem Humboldtscher Prägung. Das von ihm proklamierte dreistufige System von Elementarschule, Gymnasium und Universität gilt für sie unumstösslich wie die Zehn Gebote. Andere streben eine ausschliesslich auf die Praxis bezogene Ausbildung an. Eine weitere Fraktion an Bildungsfachleuten beschwört im Windschatten von Pisa eine Bildung, welche gemessen und verglichen werden kann. Ihr Ziel sind gesamtschweizerische Prüfungen, bei der sich die einzelnen Schulen in einem Vergleichswettkampf gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben. Dabei sind ihnen jene Fächer ein Dorn im Auge, deren Ergebnisse, wie zum Beispiel ein Deutsch­aufsatz oder eine Religions- oder Ethikarbeit, bei der Auswertung nicht standardisiert verarbeitet werden können. Ja, seit Paulsens Definition aus dem Jahr 1903 ist viel Wasser durch die pädagogischen Mühlen geflossen, doch in einem Punkt hatte er nach meinem Erachten recht: Ein wichtiger Aspekt von Bildung bleibt, dass man «gesellschaftlich mitreden kann» – das gilt natürlich auch für religiöse Belange.

Mit herzlichen Grüssen

Reto Stampfli