Editorial

Esperanto des Glaubens?

«Pfingsten, da sind die Geschenke am geringsten. Während Geburtstag, Ostern und Weihnachten, stets etwas einbrachten», schreibt der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht in seinem «Kinderbuch». 50 Tage nach Ostern feiern die christlichen Gemeinden mit dem Pfingstfest eine Art Geburtstag, der eigentliche Beginn der Verbreitung des christlichen Glaubens. Anders als an Weihnachten und Ostern wurden jedoch an diesem Tag keine Geschenke gemacht und daran hat sich bis heute nichts geändert. Doch wir stehen an Pfingsten nicht mit leeren Händen da: Laut der Apostelgeschichte ist Pfingsten jener Tag, an dem die Jünger Jesu vom Heiligen Geist «erhellt» wurden. Die in Jerusalem Versammelten konnten plötzlich mehrere Sprachen sprechen. Es kam zu einer «Sprachvermehrung», ein Phänomen, das sprachloses Erstaunen hätte erzeugen können, jedoch genau das Gegenteil bewirkte. Es entfachte einen uneingeschränkten Austausch, das sogenannte «Pfingstwunder». So wurde Pfingsten zu einem Fest der Sprachen, denn plötzlich verstanden sich alle. Was für ein Geschenk! 

Somit kann man das Pfingstwunder als die Umkehr der Zerstörung des Turms von Babel betrachten. In dieser alttestamentlichen Geschichte konnten die Menschen, die nicht mehr auf Gott hören wollten, auch plötzlich nicht mehr aufeinander hören. Die Sprachen waren verwirrt. Die Kommunikation erstarb. An Pfingsten – im Gegensatz dazu – schenkt der Wille, auf Gott zu hören, den «verschiedensprachigen» Anwesenden das Verständnis für ihren gemeinsamen Auftrag. Doch wie lief das an Pfingsten tatsächlich ab? War es ein Wunder in der Form des Simultandolmetschens oder war eher eine Sondersprache, also eine Art Esperanto, im Spiel? Diese Frage können und müssen wir nicht beantworten. Als Antwort dient die weitere Entwicklung der christlichen Gemeinden. Das an Pfingsten erlebte Gefühl der Zusammengehörigkeit führte zu einem begeisterten Weitererzählen der Botschaft Christi. Und bis heute wird davon gesprochen, in unzähligen Sprachen, weit über einen in Jerusalem versammelten «Insider-Circle» hinaus. 

 

Mit pfingstlichen Grüssen 

Reto Stampfli