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Schawuot und Pfingsten – Gründungsfest des Judentums und der Kirche

von Stephan Kaisser

Das jüdische Schawuot und das christliche Pfingstfest haben nicht nur das Datum gemeinsam. Auch inhaltlich gibt es bei diesen in beiden Religionen zentralen Festen wichtige Gemeinsamkeiten. Die Weisungen Gottes für ein Leben in Frieden und Freiheit sind der Ursprung und das Fundament beider Schwester-Religionen. 

Fünfzig Tage nach Pessach  
In der Apostelgeschichte wird erzählt: «Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen liess sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.» 

Hier wird auf das jüdische Pfingsten Bezug genommen. Dieses sogenannte Schawuot ­(= Wochenfest) ist nach Pessach das zweite von den drei Wallfahrtsfesten zum Tempel in Jerusalem. Der Name ist aus dem Griechischen abgeleitet: pentēkoste = fünfzig. Das bezieht sich auf das Gebot im Buch Levitikus, das verlangt, dieses Fest am fünfzigsten Tag (sieben mal sieben Wochen) nach Pessach zu begehen. Ursprünglich wurde an diesem Datum nach kanaanitischer Tradition ein Erntefest zum Dank für die Weizen­ernte gefeiert. Später wurde dieses bäuerliche Fest mit dem Bundesschluss am Sinai, an dem durch Mose die Tora (= Weisung) vermittelt wurde, verbunden. Im Zentrum der Thora stehen die Zehn Gebote, die Mose auf zwei Steintafeln erhalten hatte. (Deuteronomium 5,22; siehe Abbildung). Da der Tempel in Jerusalem zerstört und nie wieder aufgebaut wurde, wird Schawuot heute in den Synagogen und zu Hause gefeiert. 

Gottes Weisung als Fundament der Freiheit
Der Bundesschluss mit Gott am Sinai kann wegen der Übergabe der Tora, der Weisung, die das Zusammenleben der Israeliten regelt und sie zum Gottesvolk macht, als Geburtsdatum des Judentums bezeichnet werden. Die jüdischen Gelehrten betonen, dass das Volk Israel erst durch den bewussten Empfang des göttlichen Gesetzes zu einem freien eigenständigen Volk wurde.

Neben der Toralesung, deren Gegenstand die Offenbarung der Zehn Gebote (Exodus 19f.) ist, wird in der Synagoge an Schawuot das Buch Rut gelesen. Diese weisheitliche Lehrerzählung handelt von der Moabiterin Rut, die aus Solidarität mit ihrer Schwiegermutter Noemi ihre Heimat verliess und sich dem Volk Israel anschloss. Ihre Begegnung mit dem Juden Boas, ihrem späteren Mann und Grossvater Davids, geschah zur Zeit der Weizenernte.  

Traditionell werden am Wochenfest die Synagogen und Häuser mit Blumen und Früchten geschmückt. Der erste Abend von Schawuot sollte mit dem gemeinsamen Studium von Tora und Talmud (der Auslegung der Tora) verbracht werden. Am Wochenfest ­findet im traditionellen Judentum die Einschulung der Knaben in den «Cheder», die jüdische Elementarschule, statt. In Reformgemeinden wird der Termin des Wochenfestes seit dem 19. Jahrhundert mit der Feier der Bar Mizwa (Fest der Religionsmündigkeit, vergleichbar mit der Firmung) verbunden. 

Fünfzig Tage nach Ostern
Im christlichen Kontext feiern wir gemäss der Apostelgeschichte fünfzig Tage nach Ostern das Pfingstfest: das Herabkommen des Heiligen Geistes auf die Jüngerinnen und Jünger Jesu. Laut Johannesevangelium hatten sich die Jünger an Ostern aus Furcht eingeschlossen, als Jesus in ihre Mitte trat und ihnen den Geist verlieh. Johannes verbindet also Ostern und Pfingsten noch enger. Im liturgischen Kalender kommt diese Zusammengehörigkeit der beiden Feste zum Ausdruck, indem wir mit Pfingsten den Abschluss der fünfzigtägigen Osterzeit feiern. 

Nach dem Empfang des Hl. Geistes (die Feuerszungen in der Apostelgeschichte erinnern an den Bundesschluss am Sinai) überwinden die Jünger ihre Angst und beginnen im Auftrag Jesu Sünden zu vergeben (so Johannes) und von ihm, dem Messias und Auferstandenen zu predigen, allen voran Petrus (so die Apostelgeschichte). 

Deswegen wird Pfingsten als Geburtsstunde der christlichen Kirche betrachtet. Die vordringlichste Aufgabe der Kirche ist es, von Jesus, dem auferstandenen Messias und dem mit ihm angebrochenen Reich Gottes zu künden. An diesem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit soll die Kirche mitbauen, bis Jesus, der Messias (= Christus), am Ende der Tage wiederkommt, um es zu vollenden.

Gründungsfest des Judentums und der Kirche
Hier zeigt sich eine tiefgründige Gemeinsamkeit vom christlichen Pfingsten und dem jüdischen Schawuot. Der Bundesschluss am Sinai, an dem das Volk Israel die göttliche Weisung empfängt, kann als Gründungsfest des Judentums gesehen werden. Das Pfingstfest, an dem der Heilige Geist den Jüngern die Angst nimmt und aufträgt nac00h seiner Weisung zu leben und zu predigen, wird als Gründungsfest der Kirche gefeiert.

Noch weitere Parallelen lassen sich aufzeigen, so wie sich Juden durch Gebet und Studium der Tora auf Schawuot vorbereiten, beten wir die Pfingstnovene. Dieses Gebet um Stärkung durch den Heiligen Geist hat seinen liturgischen Ort in den Tagen von Christi Himmelfahrt bis Pfingsten, der sogenannten «Pfingstnovene» (novem = neun).

So wie an Schawuot die Wichtigkeit der Weisung für das ganze Volk gefeiert wird, gibt es das Fest der Bar Mizwa bzw. Bat Mizwa ( d. h. Sohn bzw. Tochter des Gebotes), wo dies für die einzelnen Jugendlichen gefeiert wird, die ab diesem Tag als religionsmündig gelten.

Im Christentum wird am Fest der Firmung auch die Verleihung des Geistes (zeichenhaft ausgedrückt durch Handauflegung und Salbung) für die einzelnen Jugendlichen gefeiert, sozusagen ein Pfingsten für die Einzelnen, das auch zur Religionsmündigkeit führt. Dass die Bar/Bat Mizwa häufig an Schawuot und die Firmung um Pfingsten stattfindet, ist damit sinnvoll.

Das Schmücken mit Blumen und grünen Zweigen ist bei beiden Festen üblich. Sie sind Zeichen der Freude, Schönheit und Lebendigkeit. Dass Sie diese geistlichen Erfahrungen, zu denen Gott uns die Weisung schenkt, an Pfingsten und immer wieder neu machen, ist auch mein pfingstlicher Wunsch für Sie!  

Der Geist weht 

Feuerzungen, Sprachwunder und Sturmgebraus: Obwohl auch Pfingsten wie Ostern und Weihnachten gleich zwei Feiertage hat, können die wenigsten mit dem christlichen Hochfest noch etwas anfangen. Neben Gott Vater und Jesus ist der Heilige Geist die dritte Person in der «Heiligen Dreifaltigkeit». (...)

Dabei hat die Erzählung vom Geist Gottes Judentum und Christentum und damit auch die Geschichte der westlichen Welt massgeblich beeinflusst, wie der evangelische Theologe Jörg Lauster in seiner «Biographie des Heiligen Geistes» nachweist. Gott ist nach christlichem Verständnis in der Welt als Geist präsent: in der Schöpfung, in menschlichen Gemeinschaften wie der Kirche und in einzelnen Menschen – insbesondere in Jesus Christus. (...)

Zugleich weist Lauster in seinem Buch darauf hin, dass es auch eine negative Seite gibt. Schon der Apostel Paulus, der die christliche Geist-Theologie massgeblich mitgeformt hat, kritisiert Menschen, die sich als Träger des Geistes profilieren und sich damit anderen überlegen fühlen.
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