Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Empowerment
Literaturkritiker rümpfen zwar nicht selten die Nase, doch bei Schülern kommt der Schriftsteller Hermann Hesse erstaunlich gut an. Das hat unter Umständen damit zu tun, dass sein romantisierender Stil und seine kritischen Gedanken zu Schule und Erziehung die jugendlichen Leser begeistern können. Vor Kurzem habe ich mit einer Klasse «Peter Camenzind» gelesen, die Geschichte eines jungen Mannes, der aus seiner ländlichen Heimat weggeht, um in der weiten Welt seinen Weg zu finden. Dieser 1904 erschienene Roman wurde zum ersten grossen Erfolg in der Karriere des Nobelpreisträgers. Hesse, der süddeutsche Missionarssohn, dem durch den rigiden pietistischen Traditionalismus seines Elternhauses «der christliche Weg zu Gott» regelrecht «verbaut» worden war, entwickelte sich auf seinem Lebensweg zu einem kritischen Sinnsucher. Er blieb zeitlebens auf der Suche nach religiösen Alternativen sowie hellhörig für eine ansprechende Form von Religion. Er nahm dabei verschiedene Religionen und Philosophien ins Visier. Dabei ist er auch tief in die Welt der Religion und Philosophie Indiens eingetaucht. Gern verglich Hesse das Christentum mit den asiatischen Religionen und bemerkte dazu provokativ: «Im Buddhismus wie im Protestantismus wird eine gefährliche Kultur der Minderwertigkeitsgefühle getrieben. Gaben, Talente und Besonderheiten eines heranwachsenden Menschen werden kaum gefördert.»
Diese Aussage führt im Schulzimmer regelmässig zu angeregten Diskussionen, denn ein religiöser Glaube sollte doch genau das Gegenteil bewirken. Eine Schülerin sprach in diesem Zusammenhang von «religiösem Empowerment». Der Mensch sollte in erster Linie ermächtigt werden, autonom und selbstbestimmt zu handeln. Im Fokus ist ein Gott, der die Menschen befähigt, ihr Leben und die Gesellschaft zu gestalten und die dazu nötigen Gaben und Fähigkeiten sinnvoll einzubringen. Im Neuen Testament wird das einseitige Abhängigkeitsverhältnis immer wieder überwunden. So nennt Jesus im Johannesevangelium seine Jünger nicht mehr Knechte, «denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut»; Jesus bezeichnet sie als Freunde, «denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, das habe ich euch kundgetan.» Ein wunderbares Beispiel für religiöses Empowerment.
Mit kräftigen Grüssen
Reto Stampfli