Schwerpunkt

Engel als Helfer und ­Beschützer der Menschen

von Silvia Rietz

Engel genossen in der katholischen Kirche einst Hochkonjunktur. Mittlerweile haben sie ein bisschen an Popularität verloren. Doch im Volksglauben sind die Schutzengel nicht wegzudenken. Die Himmelsboten erfüllen die Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit, bieten Halt in einer hektischen und unsicheren Welt. 

Knapp an einem Unfall vorbeigeschrammt oder einen überlebt, die Prüfung trotz Nervenflattern geschafft, den Zug in letzter Minute erreicht – Situationen, in denen viele Menschen ihrem Schutzengel für die spontane Hilfe danken. Solcherart Engelerfahrungen, sowie religiöse, philosophische und esoterische Engel-Betrachtungen, füllen ganze Bibliotheken. Engel begleiten unseren Alltag, egal ob wir an sie glauben oder nicht: Sie erscheinen auf Weihnachtskarten und auf Hochzeitseinladungen. Es wimmelt von Engel-Souvenirs, Schmuckstücken und religiösen oder pseudoreligiösen Ziergegenständen. Museen sind vollgepackt mit Bildern dieser Flügelwesen, Maler und Dichter huldigen ihnen. Fragt man jedoch jemanden direkt, ob er an die Existenz von Engeln glaubt, stösst man plötzlich auf den Konflikt von nie hinterfragten Glaubensgewissheiten und dem Hightech-Realismus unserer Zeit. Samuel Beutler formulierte es so: «Alle Vernunft ist dagegen und alles gesunde Empfinden spricht dafür.» Wir kennen die Engelhierarchien: Seraphim, Cherubim, Throne, Mächte und Erzengel. Die eigentlichen Stars jedoch sind die weiter unten rangierenden Schutzengel. Wer einmal in seinem Leben von Engeln beschützt oder geleitet worden ist, zweifelt nicht an ihrer Existenz. Wer es dennoch tut, sollte sich an die Kindheit erinnern.

HIMMLISCHE «SECURITAS»
Kinder kriegen Himmel und Erde nämlich viel besser zusammen als wir Erwachsenen. Für sie ist völlig klar: Gott ist ein Gott des Himmels und der Erde. Er kommt zu uns, ist wirklich bei uns anwesend. Sie stellen sich Engel als Schutzeinheiten vor, quasi die himmlische «Securitas». Als Wesen, die für Gott arbeiten. Weil sie so offen für das Transzendente sind, wissen Kinder manchmal, dass es Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann. Aber erzählen. Wenn sie viel spürten, dann ist der Engel in der Erzählung gross, dick und mächtig. Wenn sie nicht so viel gespürt haben, ist der Engel vielleicht etwas kleiner. Der Psychoanalytiker C. G. Jung hat gesagt: «Wirklich ist, was wirkt.» Deshalb sind die Engelsvorstellungen von Kindern Wirklichkeit: Denn sie können fühlen, dass ihr Engel sie beschützt und begleitet, beten vor dem Einschlafen voller Inbrunst: «Schutzengel mein, lass mich dir empfohlen sein.» 

ENGEL IN DEN RELIGIONEN                                                                                   
Engel (lateinisch angelus, altgriechisch ángelos oder hebräisch mal’ach) bedeutet übersetzt Bote oder Abgesandter. In den Lehren der monotheistischen abrahamitischen Religionen des Judentums, Christentums und des Islams sind sie Geistwesen, die von Gott als Mittler zwischen Gott und den Menschen erschaffen wurden. In der Bibel finden sich viele Berichte über Engel, die Menschen eine Botschaft Gottes überbringen. Der Erzengel Gabriel verkündete Maria die Geburt des Gottessohnes und Zacharias die Geburt von Johannes dem Täufer. Im Alten Testament und im jüdischen Tanach begegnen wir vielen Engeln: Als Gott Abraham befahl, seinen Sohn zu opfern, hält ein Engel ihn im letzten Augenblick davon ab, Isaak zu töten. Jakob träumte von der Himmelsleiter voller Engel, auch Joseph träumte von Engeln. Im Psalm 91 (10,11) steht geschrieben: «Dir begegnet kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt. Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf allen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuss nicht an einen Stein stösst.»       

SCHUTZENGEL ALS BEGLEITER
Ein Schutzengel ist ein unsichtbarer Wegbegleiter für einen Ort, ein Land, einen Menschen – spüren kann ihn nur, wer offen dafür ist, an ihn zu glauben. Dahinter steckt auch die Vorstellung, dass jedem Menschen ein oder mehrere Schutzengel zur Seite stehen. Für die einen sind die Engel nur eine Metapher, verblasste Nebenfiguren des Mittelalters oder lediglich ein kulturelles Thema unter vielen. Doch für sehr viele Menschen ist die Existenz der Engel jedoch eine Tatsache, die von der Doktrin der Kirche bestätigt und durch Gebete aufrechterhalten wird. Im römisch-katholischen Glauben existiert eine starke Engelstradition. Aber auch die evangelische Kirche kennt Engel. Luther selbst glaubte als Kind an Schutzengel. Später hat er seinen Morgen- und Abendsegen mit einem «Engels-Wort» beendet und sagte sinngemäss: «Der Engel führt uns. Er schaut, dass wir inwendig angeregt werden. Von ihm bekommen wir Sinn, Anstoss, Zeichen.»  

Schutzengelerfahrungen
Ich bin überzeugt, die meisten Menschen besitzen eine Schutzengelerfahrung. Ein Erlebnis, welches sie veränderte, öffnete, sinnlicher und spiritueller gemacht hat. Im Buch «Begegnungen mit Schutzengeln» von Eileen Elias Freeman wird von einem Mann berichtet, der durch den frühen Tod seines kleinen Bruders schon als Knabe wütend und verbittert wurde. Auch später, als Familienvater, rumorte der Zorn in ihm. Bis seine Frau ihn verliess. Er konnte dies nicht begreifen, wütete in der Küche, warf alles Geschirr zu Boden. Einzig der alte Teller aus Kindertagen liess sich nicht bewegen. Seine Grossmutter hatte an Festtagen ein zusätzliches Gedeck für den Schutzengel aufgelegt. Der Mann erinnerte sich an diese Tradition und hörte eine Stimme, die ihn bat, für sie Platz zu machen. Im Chaos der verwüsteten Küche stellte der Mann den einzigen heilgebliebenen Teller mit Besteck auf den Tisch, hiess den Engel der Kindheit willkommen, sprach zu ihm. Ja, Sie ahnen es: Der Engel lotste die Frau zurück, die beim Anblick der Verwüstung und des weinenden Mannes eine neue Chance für eine liebevolle Partnerschaft sah.  

DIE ENGEL VON MARC CHAGALL
Wer verzweifelt ist, sollte mit seinem Engel sprechen. Wer an Engel glaubt und sie in seinen Alltag miteinbezieht, glaubt auch an Gott. Denn ohne den Allmächtigen gäbe es seine Boten nicht, und wir würden keine Engel spüren. Ich denke da an Marc Chagall, dessen Werke mit vielen Engeln bevölkert sind. Sie begegnen uns in seinen religiös/biblischen Bildern, wie auch in den profanen. Chagall hat – aufgrund eines Traumes, über den er in seinen Tagebüchern berichtet – im Engel auch seine schöpferische Muse gesehen, seine göttliche Inspiration, die über das Menschliche hinaus ins Geistig-seelische, Transzendente führt.

Engel haben nicht nur in der Bibel und in den Werken grosser Mystiker, sondern auch in der Kunst (denken wir neben Chagall und Klee an die grossen Meister der Renaissance: Michelangelo, Botticelli, Raffael), in der Musik und Literatur, Spuren hinterlassen. 

ENGEL ALS «GUTE MÄCHTE»
Wie auch im Gedicht «Von guten Mächten wunderbar geborgen» von Dietrich Bonhoeffer. Der Schlussvers findet sich auf Postkarten, Todesanzeigen und Kalenderblättern, wurde zum Kirchenlied vertont und gehört zum Fundus volksfrömmischer Lebenssprüche. Im Bewusstsein, dass der Theologe und NS-Widerstandskämpfer Bonhoeffer das Gedicht kurz vor seiner Hinrichtung im Kellergefängnis des Reichssicherheitsamtes schrieb sowie dem letzten Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer beilegte, lässt uns die Worte als ergreifendes Vermächtnis lesen und die «guten Mächte» als Engel erkennen: 

Von guten Mächten wunderbar geborgen,

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.