Editorial

Die abenteuerlichste Reise

«Geh nicht hinaus! Komm auf dich selbst zurück! Im innern Menschen wohnt die Wahrheit ...». Dieses Zitat stammt nicht etwa aus der modernen Psychoanalyse; nein, diese Aussage wurde bereits vor nicht weniger als 1600 Jahren zu Papier gebracht. Der spätantike Philosoph und Theologe Aurelius Augustinus beschreibt mit diesen Worten seine eigenen Erfahrungen eines bewegten Lebens. Lange und intensiv hat er überall das Glück gesucht, oft auch in extremer Art und Weise. Obwohl Augustinus im Mittelalter zum Kirchenlehrer ernannt wurde, war er in seiner Jugend alles andere als ein Kind von Traurigkeit. Man könnte seinen autobiografischen Enthüllungsroman «Die Bekenntnisse» zweifellos als einen ersten Versuch einer literarischen Beichte bezeichnen. Ein Partylöwe der deftigeren Sorte, der schon früh ungewollt Vater und vom eigenen Vater verstossen wurde. Doch im Rückzug aus dem Lärm der Welt und in der Suche nach Gott wurde er vom Egotaktiker zu einer sozialen Instanz. 

In den nächsten Wochen wird es wieder viele Menschen in die Ferne ziehen. Das Fernweh befördert uns innert Stunden rund um die Welt. Nicht selten sucht man an den angestrebten Orten etwas, was man zu Hause nicht zu finden scheint. Eine immerwährende Sehnsucht nach Veränderung. Auch Augustinus war in einer Zeit – in der das Reisen ein gefährliches Abenteuer war – oft und lange unterwegs. In seinen letzten Jahren bemerkte er in einer autobiografischen Schrift, dass sich seine Persönlichkeit nie so entwickelt hätte, wenn er immer am selben Ort geblieben wäre. Die Bekanntschaft mit anderen Ansichten und Denkweisen öffneten seine Sichtweise für Neues. Ein positiver Effekt, den viele moderne Menschen im 21. Jahrhundert insgeheim auch für ihre Reisen und Unternehmungen erhoffen. Doch Augustinus kam auch zur Einsicht, dass reine Mobilität schnell einmal zu einem unreifen Verhalten, einem ziellosen Umhergetriebensein, verkommen kann. Dann wird die Reise durch die Welt zu einer Flucht; nicht selten sogar zu einer Flucht vor sich selbst. Denn wer nicht bei sich selbst zu Hause ist, kann auch in der Ferne keine Erfüllung finden. Diese prägenden Erfahrungen kumulierten dann im berühmten Satz: «Geh nicht hinaus! Komm auf dich selbst zurück! Im innern Menschen wohnt die Wahrheit ...». Es ist erfüllend, die Welt zu erkunden, doch die abenteuerlichste Reise führt tief in sich selbst hinein. 

Mit herzlichen Grüssen 

Reto Stampfli