Aktuelle Nummer 18 | 2024
25. August 2024 bis 07. September 2024

Schwerpunkt

Katholiken im US-Wahlkampf

von Reto Stampfli

Historisch gesehen hat Religion in den USA immer eine bedeutende Rolle in der Politik gespielt, da viele Wählerinnen und Wähler religiöse Werte und Überzeugungen in ihre politischen Entscheidungen einfliessen lassen. Welchen Einfluss hat dabei der Katholizismus? 

Stellen Sie sich vor, die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd würde eine ihrer öffentlichen Reden mit dem Satz «Gott segne die Schweiz!» abschliessen. Selbst als Walliserin und katholisch erzogene Magistratin würde dieser «fromme Wunsch» für die Zuhörerschaft irritierend und vermutlich kontraproduktiv wirken. In Amerika hingegen gehört religiöses Vokabular zum Standardprogramm der politischen Rhetorik und wird von einem Grossteil der Wählerschaft geradezu erwartet. Das Thema Religion spielt im US-Wahlkampf – auch im aktuellen – eine bedeutende Rolle und beeinflusst sowohl das Wählerverhalten als auch die Visitenkarte der Kandidaten. Religiöse Sprache und Symbole werden benutzt, um Wähler zu erreichen und propagierte Werte zu unterstreichen. Diese Rhetorik zielt darauf ab, die moralische Integrität eines Kandidaten zu betonen oder bestimmte politische Positionen zu legitimieren. Fragen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und Stammzellenforschung werden häufig im Kontext religiöser Überzeugungen diskutiert. Gerade in unseren modernen pluralistischen Gesellschaften zeigt dieser Ansatz Wirkung. In Amerika lässt sich seit Jahrzehnten beobachten, dass der Einfluss von religiösen Argumentationen und Wertvorstellungen auf politische Entscheidungen gewachsen ist.

Gott «liebt» Amerika
Ein erklärter Atheist als US-Präsident? Undenkbar. Obwohl die Zahl der Gläubigen auch in den USA weniger wird, nimmt Religion in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft noch immer eine wichtige Stellung ein. So machen zum Beispiel evangelikale Christen einen nicht zu unterschätzenden Teil der republikanischen Wählerbasis aus. Themen wie Abtreibung, LGBTQ+-Rechte und Religionsfreiheit sind zentral für sie. Jüdische, muslimische und andere religiöse Minderheiten tendieren oft zu den Demokraten, vor allem aufgrund von Themen wie religiöser Toleranz, Bürgerrechte und Aussenpolitik, insbesondere in Bezug auf den Nahen Osten. Eine weitere einflussreiche Gruppe sind die katholischen Wähler. Sie sind in den Staaten die grösste definierbare religiöse «Einheit», stellen jedoch in der Praxis eine vielfältige Gruppe dar und können sowohl Demokraten als auch Republikaner unterstützen. Themen wie Sozialpolitik, Einwanderung und Gesundheitswesen sind oft für diese Wählergruppe entscheidend. Besonders in umkämpften Staaten können katholische Wähler (swing voters) eine entscheidende Rolle spielen. Kirchen und religiöse Führer üben zum Teil einen erheblichen Einfluss auf die Wähler aus, insbesondere in konservativeren Gegenden. Sie mobilisieren Wähler, bieten Wahlkampfplattformen und können die politische Meinung ihrer Anhänger prägen.

Ein Katholik geht, einer kommt
Dass jetzt Kamala Harris, eine Baptistin mit hinduistischen Wurzeln, statt Joe Biden zur Wahl antritt, verändert einiges. Retrospektiv ist jedoch eines klar: Im Wahlkampf hätte der praktizierende Katholik Biden nicht flächendeckend auf die Unterstützung der Katholiken zählen können. Die Beziehung zwischen den Katholiken und der US-Politik war und ist kompliziert. Mit Argwohn wurden die katholischen Gläubigen lange Zeit betrachtet, da sie, so ein gängiges Vorurteil, nicht der Verfassung und den freiheitlichen Werten der USA treu seien, sondern dem Papst in Rom. Anschuldigungen, die wir auch aus dem Kulturkampf in Europa und der Schweiz kennen. Historisch gesehen haben Katholiken jedoch seit jeher eine wichtige Rolle in der US-amerikanischen Politik gespielt. Das ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, denn der erste katholische Präsident der USA, John F. Kennedy, wurde 1960 gewählt. Mit Joe Biden sitzt erst der zweite Katholik im Oval Office. Vor Bidens Rückzug hat Trump seinen Vizekandidaten J. D. Vance in Stellung gebracht. Vance ist 2019 der katholischen Kirche beigetreten und interpretiert diese ganz anders als Biden, der in einer irisch-stämmigen katholischen Familie aufgewachsen ist. Kein Wunder, denn der früher in den USA dominierende liberale Katholizismus gehe zurück, sagt Massimo Faggioli, Theologe an der Villanova University in Pennsylvania. Darum sei für Konvertiten wie Vance die katholische Kirche ein «guter Ort», um sich gegen liberale Werte zu positionieren. 

Trump und die Bibel
Donald Trump wird im Wahlkampf weiterhin die gewohnt religiösen Töne angeschlagen. Er zählt auf die Stimmen der konservativen Christen und bedient geschickt ihre Themen. Die neue Kontrahentin, Kamala Harris, vertritt Positionen, die eher liberale Christen ansprechen. Punkten könnte sie unter anderem damit, dass sie sich entschiedener für ein Recht auf Abtreibung einsetzt als Joe Biden. Jetzt hofft sie natürlich, junge Frauen aus dem suburbanen konservativen Milieu auf ihre Seite zu bringen, die nicht notwendig auf der Parteilinie der Republikaner sind, wenn es um diese Frage geht. Auch die Mehrzahl der Katholiken in Nordamerika ist im Unterschied zu den Bischöfen der Meinung, Abtreibung solle nicht generell verboten werden. Trumps Wahlkampf ist jedoch eindeutig stärker auf religiöse Inhalte ausgerichtet als der von ­Kamala Harris. Trump stellt sich gern als «Kreuzritter» dar, im Kampf gegen eine verdorbene moderne Welt. So bedient Trump unter anderem einen eigenen Social-Media-Kanal namens «Truth Social». Dort wird eine Fülle von religiösen Postings veröffentlicht, die konservativ-gläubige Christen ansprechen. Ein besonders auffälliges Bild zeigt Trump mit der Bibel in der Hand. Im Untertitel steht: «Zwei Dinge, die Demokraten am meisten fürchten: Trump und die Bibel.»

Trennung von Kirche und Staat
In diesem ganzen «Politgetöse» reibt sich so mancher nicht-amerikanischer Beobachter verwundert die Augen und denkt: «Wie kann man so jemanden wählen?» Jemand, der in vielfacher Hinsicht keine christliche Lebensführung gezeigt hat, dem es hauptsächlich um Macht und Geld geht und der mehrfach beim Lügen erwischt wurde. Oft ist in diesem Zusammenhang das Argument zu vernehmen: «Wir finden das zwar auch schrecklich – aber Trump wird unsere Ziele durchsetzen.» Nebst religiösen Wahlkampf-Parolen ist auch die Debatte über die Trennung von Kirche und Staat in den USA stets präsent. Während einige Wähler und Politiker eine stärkere Betonung religiöser Werte in der Politik fordern, plädieren andere für eine strikte Trennung, um religiöse Neutralität wiederzugewinnen. Aber die Säkularisierung der Staatsgewalt bedeutet nicht schon eine Säkularisierung der Bürgergesellschaft, denn aus diesem Umstand ergibt sich für religiöse Bürger eine paradoxe Lage: Liberale westliche Verfassungen sprechen allen Religionsgemeinschaften den gleichen Freiraum zu und schützen gleichzeitig die staatlichen Körperschaften vor einer zu starken politischen Einflussnahme vonseiten einzelner mächtiger Religionsgemeinschaften. Daraus folgt aber, dass sich dieselben Wähler, die ausdrücklich dazu ermächtigt werden, ihre Religion zu praktizieren und ein frommes Leben zu führen, in ihrer Rolle als Staatsbürger an einem demokratischen Prozess beteiligen sollen, dessen Ergebnis von allen religiösen Beimengungen freigehalten werden muss. Während Religion für bestimmte Wählergruppen eine entscheidende Rolle spielen könnte, wird der Wahlausgang wahrscheinlich von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, darunter wirtschaftliche Fragen, Gesundheitspolitik, soziale Gerechtigkeit und die allgemeine Stimmung im Land. Religion wird also eine wichtige, aber nicht allein entscheidende Rolle spielen.