Aktuelle Nummer 18 | 2024
25. August 2024 bis 07. September 2024

Editorial

Von Gottes Gnaden

Der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief: «Jedermann ist untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ausser von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.» Keine Frage: Dass die Regierung von Gott angeordnet wird, steht ganz klar im Gegensatz zu unserer modernen Demokratie. Diese Anweisung irritiert uns. Demokratische Verfassungen kommen ohne Gott als Obrigkeit aus. Der Souverän ist das Volk und es herrscht die Trennung von Religion und Staat. Weil sie diese Sätze des Paulus im Kopf hatten, haben viele Christen zur Zeit des Nationalsozialismus nicht gewagt, Widerstand zu leisten. Und das, obwohl Jesus und Paulus selbst zum Opfer obrigkeitsstaatlichen Unrechts geworden sind.

Doch man muss die ganze Theologie von Paulus in Betracht ziehen, dann erkennt man, dass Paulus wie sonst niemand vor ihm ganz deutlich zwischen der Obrigkeit und der Religion unterscheidet, also zwischen Kirche und Staat. Beide haben ihr je eigenes Recht und ihre je eigenen Aufgaben. Beide sind von Gott eingesetzt, um das Wohlergehen der Menschen zu fördern. Insofern vollziehen beide einen göttlichen Auftrag und stehen unter Gottes Aufsicht. Aber der Staat ist dabei nicht von der jeweils herrschenden Religion abhängig. Was bei Paulus anklingt, wurde später von Augustinus und dann erst recht von Martin Luther zu einer Theorie des christlichen Staatswesens ausgebaut. Die Anerkennung der staatlichen Autonomie gegenüber Klerus und Religion durch Luther war dabei einer der entscheidenden Impulse zur Entstehung moderner Staaten.

Anders scheint es jedoch in Amerika zu sein, denn dort spielen religiöse Faktoren im Wahlkampf eine entscheidende Rolle. Donald Trump vertritt eine Reihe von Werten, mit denen sich weisse, evangelikale Christen identifizieren. Doch auch Kamala Harris erwies sich in der Vergangenheit in religiösen Fragen als recht flexibel. Beide hätten es jedoch nicht gewagt, sich in «God’s own Country» als religiös-distanziert oder gar areligiös zu bezeichnen. Es ist jedoch aus politisch-theologischer Sicht beunruhigend, wie christliche Nostalgie sich mit der Sehnsucht nach einer im Letzten gar apolitischen Figur verbindet, welche das Land regieren soll. So kann ein mehr oder weniger getarnter Nationalismus schnell einmal zur eigentlichen Volksreligion werden. 

Mit freundlichen Grüssen
Reto Stampfli