Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Wenn Kamele durch Nadelöhre müssen
Im zehnten Kapitel des Markusevangeliums spricht Jesus jene Worte, die bis heute für Stirnrunzeln sorgen: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» Die Schärfe dieser Aussage kann durchaus irritieren. Daher suchte man seit geraumer Zeit nach möglichen anderen Bedeutungen der Worte «Kamel» und «Nadelöhr». So wirft etwa der Kirchenlehrer Kyrill von Alexandria im 5. Jahrhundert ein, dass «Kamel» in der Seemannssprache ein Schiffstau bezeichne. Andere Exegeten interpretierten das «Nadelöhr» als ein enges Nebentor in der alten Stadtmauer von Jerusalem.
Doch der umstrittene Satz ist vermutlich genau so gemeint, wie er uns in der Bibel begegnet, denn die Jünger reagieren auf ihn mit der bangen Frage: «Wer kann dann noch gerettet werden?» Jesus erwiderte darauf: «Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich.» Reichtum macht es also unmöglich, in idealer Weise Jesus nachzufolgen. Aber ob ein Leben zum Reich Gottes führt, hängt nicht allein vom Menschen ab, sondern entscheidend von Gott. Der provozierende Satz vom Kamel enthält also keine konkrete Handlungsanweisung für den sicheren Weg in den Himmel – er soll aufrütteln.
Im Neuen Testament finden wir weitere Aussagen über Geld und den Umgang damit. Geld an sich wird hier nicht als etwas Schlechtes dargestellt, aber die Art und Weise, wie Menschen damit umgehen, wird kritisch betrachtet. So betont zum Beispiel das Gleichnis von den Talenten (Matthäus 25,14–30) die grosse Verantwortung im Umgang mit anvertrautem Geld. Es wird auch mehrfach darauf hingewiesen, dass Geld dazu genutzt werden soll, anderen zu helfen. Zusammenfassend betrachtet das Neue Testament Geld als ein neutrales Werkzeug, das sowohl für gute als auch für schlechte Zwecke verwendet werden kann. Der Fokus liegt darauf, Geld nicht zum Mittelpunkt des Lebens zu machen. Heute wissen wir, dass Geld dazu beitragen kann, Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung zu decken. Aktuelle Studien zeigen, dass bis zu einem gewissen Grad Geld tatsächlich das Wohlbefinden steigert, indem es finanzielle Sicherheit bietet und Stress reduziert. Geld allein garantiert jedoch kein Glück. Wichtiger sind soziale Beziehungen, ein Sinn im Leben und psychisches Wohlbefinden. Menschen, die diese Aspekte vernachlässigen, können auch mit viel Geld unglücklich sein.
Mit segensreichen Grüssen
Reto Stampfli