Aktuelle Nummer 21 | 22 | 2024
06. Oktober 2024 bis 02. November 2024

Schwerpunkt

Das Solothurner Schicksalsjahr 1874

von Urban Fink-Wagner

Schon die erste Bundesverfassung des 1848 gegründeten schweizerischen Bundesstaats enthielt mit dem Jesuitenverbot eine Klausel, welche die Religionsfreiheit beeinträchtigte. In der Bundesver­fassung von 1874 wurden weitere antikatholische Ausnahmeartikel eingefügt. Der Kanton Solothurn war vor 150 Jahren ein Hauptschauplatz im damaligen Kulturkampf, der grossen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, wo jede Seite die Deutungshoheit für sich beanspruchte.

Vor genau 150 Jahren wurde nicht nur das Jesuitenverbot von 1848 verschärft, sondern auch die Errichtung neuer oder die Wiederherstellung aufgehobener Klöster untersagt. Die Errichtung von Bistümern wurde bewilligungspflichtig, und Geistliche durften nicht mehr in den Nationalrat gewählt werden. Die Agitation der radikal gesinnten und staatskirchlich eingestellten Katholiken im Kanton Solothurn übertraf diese bereits drastischen Massnahmen bei Weitem, wie folgende Beispiele aufzeigen.

Die Vertreibung des Basler ­Bischofs aus Solothurn 
Als 1863 Eugène Lachat zum Bischof von Basel gewählt wurde, galt dieser jurassische Geistliche selbst bei den Radikalen als Hoffnungsträger. Das änderte sich 1871, als der in Solothurn residierende Bischof pflichtgemäss die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils verkündete. Die 1870 definierte und oftmals missverstandene päpstliche Unfehlbarkeit und der Rechts
primat des Papstes waren aus Sicht der radikalen Führungsschicht, die eine Nationalkirche anstrebte, nicht akzeptierbar. Der Bischof fiel endgültig in Ungnade, als er den radikalen Pfarrer von Starrkirch, Paulin Gschwind, der von der Kanzel gegen die neuen Dogmen kämpfte, seines Amtes enthob und dessen Exkommunikation feststellte. Die Diözesankantone des Bistums Basel setzten mit Ausnahme der konservativen Stände Luzern und Zug Bischof Lachat kurzerhand ab, und am 16. April 1873 er-zwang der Solothurner Polizeidirektor dessen Ausweisung aus dem Kanton Solothurn. Das gleiche Schicksal traf den päpstlichen Geschäftsträger in Luzern, der am 12. Februar 1874 auf Geheiss des Bundesrats die Schweiz verlassen musste. 

Die Aufhebung der Stifte in ­Solothurn und Schönenwerd und des Klosters Mariastein
Schon 1834 riss der Kanton Solothurn die Vermögensverwaltung des St.-Ursen-Stifts in Solothurn an sich und bediente sich am Stiftsvermögen. 1858 führte der unterfinanzierte Kanton bei den Solothurner Klöstern eine Sondersteuer ein. Nach der aus radikaler Sicht mit der Ausweitung der Ausnahmeartikel erfolgreich verlaufenen Bundesrevision vom 19. April 1874 wurde nicht nur die Aufhebung der Chorherrenstifte Solothurn und Schönenwerd angestrebt, sondern auch die «Reorganisation» des Benediktinerklosters Mariastein. Am 18. September 1874 traf der Kantonsrat den Aufhebungsbeschluss mit dem Ziel, das Vermögen der drei kirchlichen Institutionen in die Staatskasse abzuführen und generell den Einfluss der Kirche auf das Schulwesen zu unterbinden. Das aufgehetzte und zum Teil manipulierte Solothurner Volk stimmte am 4. Oktober 1874 dem Kantonsratsbeschluss zu, ohne dass eine politisch faire Auseinandersetzung möglich war. Unbehelligt blieben nur die Kapuzinerklöster in Solothurn, Olten und Dornach, da die katholische Landbevölkerung deren Aufhebung nie akzeptiert hätte.

Die Aufhebung des Basler ­Domkapitels
Am 21. Dezember 1874 beschlossen die Diözesankantone des Bistums Basel die Aufhebung des Basler Domkapitels, das mit dem Untergang des St.-Ursen-Stifts schon vorher seine finanzielle Lebensgrundlage verloren hatte. So wurde die ganze Spitze des Bistums Basel beseitigt. Einzig der umsichtige und geschätzte frühere Direktor des Solothurner Lehrerseminars und Vorsteher des Basler Domkapitels, Dompropst Friedrich Fiala, konnte sich in Solothurn halten. Ihm ist es zu wesentlichen Teilen zu verdanken, dass St. Ursen als Pfarrkirche der Römisch-Katholiken der Stadt Solothurn erhalten blieb, auch wenn diese bis 1929 um ihre Pfarrkirche kämpfen und sogar enteignetes Eigengut teuer zurückkaufen mussten.

Die Bildung der christ­katholischen Kirche
Die damalige radikale Elite strebte eine Nationalkirche ohne Rom an. Die Grund­lage dafür wurde zum wesentlichen Teil im Kanton Solothurn gelegt. Der am 18. September 1871 in Solothurn gegründete, gesamtschweizerisch bedeutsame «Schweizerische Verein freisinniger Katholiken» bildete den Grundstein für die christkatholische Kirche in der Schweiz. Am 1. Dezember 1872 wurde in Olten der Beschluss gefasst, eine eigene kirchliche Organisation zu schaffen. In und um Olten wurden ­mehrere römisch-katholische Pfarreien in christkatholische Kirchgemeinden umfunktioniert. Im Solothurner Schicksalsjahr 1874 organisierte sich die christkatholische Kirche als National­bistum, das 1875 vom Solothurner Regierungsrat und 1876 vom Schweizer Bundesrat anerkannt wurde. Da jedoch kein römisch-katholischer ­Bischof bereit war, christkatholisch zu ­werden, mussten sich die Schweizer Christkatholiken der Utrechter Union der altkatholischen Bischöfe anschliessen.

Im Kanton Solothurn wurde mit dem Starrkircher Pfarrer Paulin Gschwind nur ein Dorfpfarrer christkatholisch, und es gelang der christkatholischen Elitebewegung nicht, zu einer Volkskirche zu werden. Der Widerstand gegen die neue Kirche wurde vor allem von der Landbevölkerung und den Frauen durchgetragen, die weiterhin treu zum vertriebenen Bischof und zum römisch-katholischen Klerus hielten. Verbotene Reisen ins nahe Luzernbiet, wo der Basler Bischof den Solothurner Kindern die Firmung spendete, wurden zu eindrücklichen Protest- und Triumphanlässen.

Im Gegensatz zu Solothurn votierte eine Mehrheit der Oltner Katholiken für den Christkatholizismus, womit die Stadtkirche St. Martin der neuen christkatholischen Kirchgemeinde übertragen wurde und die Römisch-Katholiken in den Untergrund gedrängt wurden. Die römisch-katholische Pfarrei konnte sich jedoch wieder aufrappeln, wuchs stark an und weihte 1910 am damaligen Stadtrand eine neue Martinskirche ein, die grösser und höher ist als die alte Stadtkirche.

Die Folgen des Kulturkampfs
Der Kulturkampf richtete die Mehrheit der Gläubigen so sehr auf den Papst aus wie nie zuvor, womit das Ziel der radikalen Elite, eine katholische Nationalkirche unter Staatsaufsicht zu schaffen, nicht erreicht wurde. Im Gegenteil, es fand bei den Römisch-Katholiken eine bisher ungekannte Verkirchlichung statt. Der damalige Ultramontanismus hatte aber auch seine Schattenseiten: die Gefahr einer zu grossen ­Ausgrenzung der römisch-katholisch gebliebenen Freisinnigen, ein verengtes Denken und eine sehr starke Organisation mit Vereinen von der Wiege bis zur Bahre, wo Ordnung und Gehorsam entscheidend waren. Der Zerfall der Volkskirche in den letzten 50 Jahren dürfte nicht zuletzt eine ­Reaktion auf diese lange nicht kritisch reflektierte und überbewertete Überinstitutionalisierung sein.
 

Und heute?
Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) ist klar, dass Kirche und Politik sich nicht mehr gegenseitig ihre Bereiche streitig machen und um die Oberherrschaft kämpfen müssen. Die individuelle und korporative Religionsfreiheit ist in der Schweiz nun ohne antikatholische Ausnahmeartikel garantiert. 

So wie das Thema Religion vor 150 Jahren überschätzt wurde, wird dieser Bereich als wichtiger Teil des Menschseins heute oft übergangen. Nicht wenige wollen Glaube und Kirche, die zu Recht einen Öffentlichkeitsanspruch haben, ins rein Private abdrängen. Während vor 150 Jahren bitter gekämpft wurde, ist heute oft in Politik und Gesellschaft Desinteresse angesagt. Das schadet nicht nur der Kirche, sondern auch der heute sehr individualisierten Gesellschaft, die zunehmend auseinanderbricht. Und eine Welt ohne Gott macht den Weg frei für viele Götter. Ob die zweite Option besser ist? Heute darf, kann und muss jede(r) für sich selbst entscheiden, in welche Richtung es gehen soll.