«Alles Gute, das Abbé Pierre getan hat, nicht auslöschen»

Der Vorwurf sexuellen Missbrauchs mehrerer Frauen hat das Bild des französischen «Held der Armen und Obdachlosen» Abbé Pierre verdunkelt. Jetzt ruft der Freiburger Domherr Claude Ducarroz dazu auf, das Werk des französischen Armenpriesters nicht darauf zu reduzieren.

Claude Ducarroz war, wie viele Katholiken weltweit, «überrascht und traurig» über den Bericht der Emmaus-Bewegung, in dem sieben Frauen über Verhaltensweisen von Abbé Pierre berichteten, die zwischen Ende der 1970er Jahre und 2005 auf sexuelle Belästigung oder Aggressionen hinausliefen. Die Handlungen des 2007 verstorbenen Priesters reichten von nicht einvernehmlichen Berührungen der Brust bis hin zu erzwungenen Küssen, denen manchmal weitere Aufforderungen folgten.

Auch wenn die Handlungen von Abbé Pierre im Vergleich zu anderen Fällen nicht extrem schwerwiegend erscheinen, «wird die Schuld immer von den Gefühlen der Opfer bestimmt», stellt Claude Ducarroz fest. «Solche unangemessenen Gesten können sich sehr negativ auf die Menschen auswirken.»

Er erinnert daran, dass sie als Opfer anerkannt werden und jede notwendige Unterstützung erhalten müssen. «Die verschiedenen Skandale, von denen große Persönlichkeiten der Kirche betroffen waren, lehren uns auf jeden Fall, dass der Starrummel keine Garantie für Heiligkeit ist», so der Chanoine aus Freiburg.

«Man muss immer dem Guten, das in der Person liegt, Gerechtigkeit widerfahren lassen».

Der ehemalige Propst der Kathedrale von Freiburg hat sich im Laufe seines Lebens tiefgehende Gedanken über die Natur des Bösen gemacht. Als Jugendseelsorger in Freiburg verbrachte er 1978 unter anderem freiwillig zwei Monate im Gefängnis, um die Häftlinge und ihre Geschichte besser zu verstehen. Eine Erfahrung, die er in dem Buch Prisonnier volontaire (Freiwilliger Gefangener) geschildert hat.

Durch seinen Kontakt mit den Häftlingen ist er zu der Überzeugung gelangt, dass selbst die schlimmsten Verbrecher einen Teil des Lichts in sich tragen. «Auch wenn es das Böse, das man vielleicht getan hat, nicht beseitigt, muss man immer dem Guten, das in der Person steckt, gerecht werden.»

Claude Ducarroz hat Abbé Pierre nie persönlich getroffen. Der Kanoniker war jedoch immer begeistert von dessen Einsatz für die Ärmsten der Armen. Er ist seinerseits eine der Säulen der Bürgerinitiative «Osons l’accueil», die sich dafür einsetzt, Asylsuchenden private Aufnahmeplätze anzubieten.

Der Priester hofft daher, dass die Enthüllungen über Abbé Pierre nicht all das auslöschen, was dieser bewirkt hat, insbesondere die Früchte seines Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit. Vor allem wünscht sich Claude Ducarroz, dass dies die Nutzniesser seiner Ausstrahlung nicht beeinträchtigt. «Die Auferstehungen durch sein Wirken, die Grosszügigkeit, die er in anderen entfacht hat, die internationale Bewegung, die ins Leben gerufen wurde», sollen nicht durch die Taten ihres Gründers getrübt werden.