Hans Zollner: Zu kurz gedacht, dass verheiratete Priester und Priesterinnen Missbrauch verhindern
Der Jesuit Hans Zollner kämpft seit Jahren international für Aufklärung und Prävention von sexuellem Missbrauch in der Kirche. Die vielen Missbrauchsfälle innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland überraschen ihn nicht. «Es gibt keinen monokausalen Zusammenhang von bestimmten Kirchenstrukturen und Missbrauch, das ist viel komplexer.»
Pater Zollner, waren Sie überrascht, als Sie von der hohen Zahl der Missbrauchsfälle im Raum der EKD hörten?
Hans Zollner*: Nein, keineswegs. Anders als zur katholischen Kirche gibt es zwar weltweit nur wenige Studien über sexuellen Missbrauch in protestantischen Kirchen. Aber die haben alle gezeigt, dass die Fallzahlen sich in protestantischen Kirchen nicht wesentlich unterscheiden von denen im katholischen Bereich. Es war also bekannt, dass es sich beim sexuellen Missbrauch nicht um ein spezifisch katholisches Problem handelt und dass die Struktur der katholischen Kirche und der Zölibat nicht als einzige Ursache für den Missbrauch gelten können. Entscheidend ist, wie in einem System Macht ausgeübt und missbraucht werden kann.
Ist dann die Idee des Synodalen Wegs falsch, dass man wegen des Missbrauchs den Zölibat lockern und die klerikale Hierarchie reformieren sollte?
Zollner: Nein, es ist sicher nicht falsch, darüber nachzudenken, was sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigt und Aufklärung behindert hat und wie man das ändern sollte. Aber es ist zu kurz gedacht, wenn man meint, dass verheiratete Priester oder mehr Frauen in der Leitung der Kirche an sich schon Missbrauch verhindern würden. Es gibt keinen monokausalen Zusammenhang von bestimmten Kirchenstrukturen und Missbrauch, das ist viel komplexer. Das sieht man auch an den Missbrauchsfällen in der Schweiz, wo katholische Laien schon lange mehr Macht in der Kirche haben. Auch das konnte Missbrauch und Vertuschung nicht verhindern. Es geht um grundlegendere Fragen.
Geht es vielleicht sogar darum, dass sexueller Missbrauch generell von Religionsgemeinschaften wegen ihrer besonderen soziologischen Struktur begünstigt wird?
Zollner: Religion ist immer schon ambivalent. Sie ist nicht einfach gut, das sieht man auch an den Kriegen im Namen von Religionen. Aber auch da sollte man keine zu einfachen Schlüsse ziehen. Religion kann Gewalt und Missbrauch verhindern, kann sie aber auch befördern. Aber es liegt nicht einfach nur an den Institutionen an sich. Sonst müsste man fordern, die Familie abzuschaffen, weil es in Familien die meisten Missbrauchsfälle gibt. Aber Familie gibt auch Schutz und bewahrt vor Missbrauch. Alle menschlichen Institutionen und Systeme sind anfällig für Missbrauch, deshalb müssen sie sich klare und transparente Regeln geben und sich daran halten.
Wie bewerten Sie die Debatte um die Datenbasis der EKD-Studie? Da fehlten aus vielen Landeskirchen die Personalakten…
Zollner: Offensichtlich wurden zu wenig personelle Kapazitäten bereitgestellt, um im vollen Umfang mit den Forschern zu kooperieren. Manche Kritiker bewerten dies sogar als eine Form des passiven Widerstands. Möglicherweise waren einige Landeskirchen nicht gut genug vorbereitet auf diese Sache. Und sicher kann man, ähnlich wie bei den Studien zur katholischen Kirche, jetzt nur von einem Hellfeld sprechen, von der Spitze des Eisbergs, und darunter gibt es weiterhin ein viel grösseres Dunkelfeld.
Sie sind seit vielen Jahren weltweit in der Aufarbeitung und in der Prävention von Missbrauch in der katholischen Kirche aktiv. Was würden Sie den Verantwortlichen in den protestantischen Kirchen raten, wenn die Sie fragen würden?
Zollner: Der wichtigste Ratschlag wäre, den Opfern, also den Betroffenen, Raum zu geben, über ihre Anliegen zu sprechen. Und nicht mit der Haltung heranzugehen, dass die Kirchenleitung eh schon weiss, was die Betroffenen wollen und was für sie am besten ist. So kann es nämlich keine wirkliche Aufarbeitung geben, und später auch keine Heilung. Und es hilft auch nicht, zu sagen: «Wir sind doch alle Brüder und Schwestern und müssen einander vergeben.» So funktioniert das nicht. Natürlich gehört Vergebung zum Markenkern des Christlichen, aber vorher kommt die Gerechtigkeit. Erst muss die Schuld wirklich anerkannt und in ihrer ganzen Tiefe durchgearbeitet werden.
Und der zweitwichtigste Ratschlag?
Zollner: Als zweites würde ich den evangelischen Kirchen raten, dass sie auf ihre eigenen systemischen Zusammenhänge schauen, die Missbrauch begünstigt und Vertuschung befördert haben. Ein Element scheint das evangelische Pfarrhaus mit seinen besonderen Mechanismen zu sein. Das funktioniert ganz anders als das Männerbündische in der klerikalen Hierarchie der katholischen Kirche. Und doch gab es offenbar in beiden Systemen eine Kultur des Verschweigens. Ein weiteres Element ist die unklare Zuordnung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Trotz aller Unterschiede scheint es auch in der evangelischen Kirche so gewesen zu sein, dass man bei Beschuldigungen zu Missbrauch nie genau wusste, wer was wann wie hätte entscheiden müssen. Und so etwas begünstigt Straflosigkeit, wenn zwischen verschiedenen Stellen immer wieder Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben werden.
*Der Jesuitenpater Hans Zollner SJ (56) ist Theologe, Psychologe und Psychotherapeut. Er leitet das römische «Institut für Anthropologie» (https://iadc.unigre.it/). Im März 2023 gab der Präventionsexperte bekannt, dass er die Päpstliche Kinderschutzkommission verlässt.