Tania Oldenhage: Spricht da ein zorniger Gott?

Manchmal versuch ich mir vorzustellen, wie Gottes Stimme tönen könnte. «Die Stimme Gottes» wie klingt sie wohl, frag ich mich, und denke an das sanfte Flüstern des Windes, an den Klang des Regens im Sommer, an das tröstende Wort einer Freundin. Früher, da habe ich mir vorgestellt, Gottes Stimme wäre wie ein kräftiger Tenor. Eine männliche Stimme – wie der Nachrichtensprecher der Tagesschau: Freundlich, ernst und immer souverän, als hätte er alle schlechten Nachrichten im Griff. Ich wusste: Gottes Stimme kann auch streng sein, streng und manchmal auch wütend, wie die Stimme meines Deutschlehrers, der ein gutmütiger Typ war, niemand konnte ihn aus der Fassung bringen… Nur einmal ist er ausgerastet. Was wir uns eigentlich hier erlauben, fuhr er uns an, einen Schüler zu plagen, nur weil er anders aussieht als der Rest von uns. Bis heute höre ich seine zornige Stimme, sie donnerte durchs Klassenzimmer.

Gott ein Kriegsherr?

Gott spricht, heisst es in der Bibel. Und an manchen Stellen spricht Gott nicht wie das sanfte Flüstern des Windes, sondern voller Zorn. Besonders zornig klingt Psalm 110, für mich einer der schwierigsten Psalmen der Bibel. Dort spricht Gott: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel unter deine Füsse lege. Ich versuch mich dran zu erinnern, wie es war, als ich diese Worte zum ersten Mal an mich heranliess und mir vorstellte, was hier beschrieben wird: Gott sorgt nicht nur dafür, dass die Feinde vernichtet werden, Gott macht die Leichen der Feinde zu Schemeln, auf die der Sieger seine Füsse stellen kann. Ich konnte es schier nicht glauben. Gott das Heiligste, das ich denken konnte, ist ein Kriegsherr? Zorn ist eine Sache. Doch dieser Gott ist grausam. Ich konnte und wollte es nicht glauben.

Aus seelsorgerlichen Gründen gekürzt

Die Kirche, in der ich aufgewachsen bin, hat ein Gesangbuch, in dem sind die Psalmen unvollständig abgedruckt – aus seelsorgerlichen Gründen. Der Zorn Gottes, die Rache Gottes, die Feinde Gottes, sie alle wurden quasi rausgekürzt. Man wollte den Leuten die schrecklichen Verse nicht zumuten. In den Gottesdiensten kamen sie nicht vor. Deswegen kannte man sie auch nicht. Deswegen konnte auch ich durchs Leben gehen und denken, die Psalmen seien schöne Texte über grüne Auen und Gottes Güte, die so weit reicht wie der Himmel ist …  

Lesen und darüber hinweglesen

Wobei, in der Bibel stehen die Texte ja alle drin, schwarz auf weiss. Ich muss diese Texte gelesen haben, ich bin Theologin, das gehört zur Ausbildung. Doch es gibt das Phänomen: Du liest – und liest doch drüber weg. Altertümliche Worte rauschen an dir vorbei. Es ist wie Gesang, den ich höre, ohne die Worte zu verstehen. Oder wie die fremden Zeichen einer alten Schrift und ich bewundere, die Schönheit des Schriftbildes ohne mich mit dem Inhalt zu befassen.

Wanderung durch die Emotionen

Im 14./15. Jahrhundert wurden die Psalmen oft gemalt. Psalm 110, geschwungene Buchstaben kunstvoll gezeichnet, umrankt, beschmückt mit Blumengirlanden. Blau, Rot, Gold – so als sei der Psalm das Schönste auf der Welt. Ich denke an die Menschen, die damals mit den Psalmen lebten, jeden Tag, in den Klöstern, in den Kirchen beteten sie die Psalmen, und zwar jeden Psalm, Tag für Tag wanderten sie durch die Emotionen: Dankbarkeit und Glück und Zorn und Rache, und es spielte keine Rolle, wie man sich selbst dabei fühlte, ob man müde war oder gelangweilt, die Psalmen wurden gebetet – auf Latein. Ich frage mich, ob die Worte irgendwann ihre Bedeutung verloren und nur noch der Klang der Worte zählte, der Takt, die Töne, die Stimmen. Ich wünschte, auch ich könnte auf diese Weise eintauchen in die Psalmen, mich ihnen hingeben, ohne all die schwierigen Gedanken.

Über schwierige Gottesbilder sprechen…

Neulich sass ich mit einer Freundin auf den Treppen vor meiner Kirche im Zürich. Ich erzählte ihr von Psalm 110 und dass ich nicht wusste, wie ich darüber predigen sollte. Meine Freundin ist Alttestamentlerin. Sie kennt sich aus mit den Psalmen. Ob es überhaupt Sinn macht, fragte ich sie, auf das schwierige Gottesbild hinzuweisen. Ob es nicht besser sei, den Psalm ruhen zu lassen und die gewalttätigen Bilder zu verschweigen. Meine Freundin sagte: Du musst darüber reden. Wenn du nicht darüber redest, sagte sie, ist es wie ein dunkles Kapitel in einer Familiengeschichte und niemand spricht darüber. Und so rede ich darüber und komme mir ehrlich gesagt vor wie ein Störenfried und doch, liebe Zuhörerin, lieber Zuhörer, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die Einzige bin, die Probleme hat mit den gewaltvollen Psalmen.

… nicht wegerklären

In der Zentralbibliothek Zürich gibt es im 4. Untergeschoss lange Regalwände mit Büchern zur Erforschung der Psalmen und zu Psalm 110 gibt es besonders viel Literatur über die historischen Zusammenhänge, Religionspolitik, Königsideologien, altorientalische Bildsymbolik, altägyptische Inthronisationsrituale, die im Psalm möglicherweise eine Rolle spielen. So kann man einen schwierigen Text auch wegerklären. Der Psalm wird zum Artefakt, ich kann ihn ins Museum stellen, dann richtet er keinen Schaden mehr an.

Die Rache Gott überlassen?

Oder ich lasse mich ein auf die Gefühlswelt des Psalms. Rache, wie ich sie bei Psalm 110 herausspüre, ist eine menschliche Regung und die Frage ist, wie Menschen mit dieser Regung umgehen. Ein Lieblingsgedanke der Theologie lautet: Rache ist etwas, das überlassen wir Gott. Gott rächt, nicht die Menschen. So gelesen ist der Psalm vielleicht sogar ein Appell, auf Gewalt zu verzichten, den Rachegefühlen eben gerade nicht nachzugeben, sie Gott zu überlassen. Aber dieser Gedanke leuchtet mir nur begrenzt ein.

Wer spricht?

In Amerika war ich einmal in einem Gottesdienst, kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Es war eine liberale Gemeinde und der Pfarrer war eigentlich sehr nett. Wenn ich könnte, sagte er, würde ich den Irak am liebsten in die Steinzeit zurückbomben. Er sagte das mit donnernder Stimme und wenn ich mich recht erinnere, hob er dabei sogar den Arm in die Höhe. Dann fuhr er fort, die Psalmen auszulegen. Gott rächt, nicht die Menschen. Das sagte er, doch die Gewalt lag trotzdem in der Luft und bis heute denke ich an den amerikanischen Pfarrer, der den Irak am liebsten in die Steinzeit zurückgebombt hätte.

Alles kommt darauf an, wer spricht. Das ist eine Frage, die feministische Forscherinnen immer wieder stellen. Wer genau spricht hier im Psalm? Ist es wirklich Gott, der spricht? Handelt es sich bei den Psalmen nicht vielmehr um Menschenworte, die Gott in den Mund gelegt wurden. Und geht es dann nicht darum zu verstehen, welche menschlichen Stimmen uns hier entgegenkommen.

Gott auf der Seite der Ohnmächtigen

Wer spricht hier? Sind es die, die die Macht haben? Ist es der König, das Staatsoberhaupt, der zur Rechten Gottes sitzt und seine Füsse auf die Köpfe seiner Feinde stellt? Dann wird der Psalm zur Kriegs-Propaganda und gehört tatsächlich ins Museum. Oder hören wir in diesem Psalm die Stimmen von Menschen, die nicht mehr ein und aus wissen. Ein Volk, umringt von einer Grossmacht, ausgeliefert, ohnmächtig, nicht mehr im Stande sich zu wehren. Und die einzige Hoffnung, die diese Menschen noch haben, ist die, dass Gott den Feinden ein Ende macht, dass Gott nicht auf der Seite der Mächtigen steht, sondern auf der Seite der Ohnmächtigen.

Die Ohren öffnen für damals

Ich will die gewalttätige Sprache der Psalmen nicht rechtfertigen. Psalm 110 ist ein extrem schwieriger Text. Die Gefahr, dass er politisch missbraucht wird, besteht bis heute. Und doch gewinne ich eine leise Ahnung von der verzweifelten Not der Menschen, die diesen Psalm vor langer Zeit gebetet haben.

Manchmal stelle ich mir vor, wie Gottes Stimme tönt. Dann denke ich an das sanfte Flüstern des Windes, an den Klang des Regens im Sommer, an das kluge Wort einer Freundin, die mir sagt: Versuch es. Höre hin. Öffne deine Ohren für unsere alten Texte. Und für die Stimmen der Menschen von damals.

*Tania Oldenhage ist evangelisch-reformierte Pfarrerin in Zürich.

Bibelstelle: Psalm 110

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