Tatjana Disteli: «Bischöfe und Kardinäle haben mit uns Tabuthemen besprochen»

«Wir müssen Vorbilder sein für die Welt – und der synodale Weg könnte dies ermöglichen», sagt Tatjana Disteli (52), sichtlich berührt. Die Generalsekretärin der Katholischen Kirche im Aargau zählt auf, wie die römisch-katholische Kirche sein sollte, müsste, könnte. Dies beim Treffen im Restaurant Salmen in Olten.

«Der Glaube muss neu Relevanz finden im eigenen Leben», sagt sie eindringlich. «Die Kirche muss die heutigen Menschen mit ihrer Botschaft begeistern.» Sie müsse sich mit dem auseinandersetzen, was die Menschen von heute beschäftige. «Gerade im Umgang mit existenziellen Krisen: Da könnte die Kirche der Gesellschaft noch viel mehr geben als heute», ist Tatjana Disteli überzeugt.

Und nicht zuletzt müsse wieder klar werden: «Die Kirche trägt in sich eine positive Sprengkraft.» Sie bilde eine «Gegenkultur zur heutigen kompetitiven Zeit». Denn sie richte sich an den Schwächsten aus, nicht an den Stärksten. Tatjana Disteli fühlt sich mitverantwortlich dafür, was in der Kirche läuft. Im Guten wie im Schlechten.

Mit Schalk in den Augen führt die grosse Frau zu einem Wandgemälde im Restaurant. Es ist ein Bild ihres Namensvetters Martin Disteli, Oltner Kunst- und Satire-Maler. Es zeigt einen Priester, der eine Frau küsst.

Mit beiden Beinen in der Kirche

Trotz aller Skandale bleibt Tatjana Disteli in der römisch-katholischen Kirche – und wechselt nicht etwa zur christkatholischen. Obwohl Olten der Gründungsort der Schwesterkirche ist – und diese ebenso Präsenz in der Altstadt markiert, wie auf einem Stadtrundgang zu sehen ist.

Tatjana Disteli engagiert sich stark in der Kirche. Nicht nur beruflich, auch in der Freizeit. Siebzehn Jahre lang war sie Vizepräsidentin des Pfarreirats St. Martin Olten, parallel dazu acht Jahre Kirchenrätin.

«Gutes Team» bei Synode in Prag

Ihr Engagement hat sie wohl zu einer Top-Aufgabe der Schweizer Kirche geführt. Sie reiste im Februar als Schweizer Delegierte an die europäische synodale Versammlung in Prag. Gemeinsam mit Bischof Felix Gmür und Helena Jeppesen. «Wir haben uns schnell gefunden, waren ein gutes Team», sagt Tatjana Disteli.

Das ganze Treffen hat sie als sehr positiv erlebt. Kardinal Hollerich habe mit seinen Eröffnungsworten die Türen geöffnet: «Wir sind einander als Christenmenschen begegnet – so wie Jesus das tat», sagt sie. «In den Gruppengesprächen haben uns die Bischöfe und Kardinäle auch ganz persönliche Sachen anvertraut. Auch Tabuthemen wurden besprochen.»

Leben in Olten

Zum Gespräch über ihr Leben geladen hat Tatjana Disteli nach Olten. In dieser Stadt ist sie aufgewachsen, hier hat sie auch heute ihren Lebensmittelpunkt. Von hier pendelt sie nach Aarau, wo sie als Generalsekretärin der Aargauer Landeskirche arbeitet.

«In Olten kennen wir uns», sagt Tatjana Disteli. Sie schätzt es, in der Stadt ständig auf Bekannte zu treffen. Im Restaurant Salmen begrüsst sie einen Gastwirt, der sich an diesem Mittag ein Essen gönnt. Und sie redet mit, wenn die Dreierrunde am Nachbartisch mit der Kellnerin über die «Aceto-Glace» des Hauses diskutiert.

Einsatz für Mutter und Bruder

Mit Olten verbunden ist Tatjana Disteli besonders wegen ihrer Herkunftsfamilie, der sie emotional verbunden ist. Sie unterstützt ihre bald 92-jährige Mutter und ihren Bruder, wo immer sie kann. Einkaufen, Spitex organisieren und vieles mehr. Dies gemeinsam mit ihrem zweiten Bruder, der ebenfalls in Olten wohnt. Ihr Vater ist vor wenigen Monaten gestorben. «Das tut mir heute noch weh», sagt sie.

Ein Bruder lebt mit ihrer Mutter und hat eine «sogenannte Behinderung», wie Tatjana Disteli sagt. Sie mag solche Zuschreibungen nicht. Im Gegenteil: Ihr tut weh, wie ihr Bruder unter dem gesellschaftlichen Ausschluss leidet. Und vor allem: Sie selbst hat ihren Bruder nie als eingeschränkt erlebt.

Im Gegenteil: «Mein Bruder hat mir das Wichtigste im Leben beigebracht: den Glauben.» Tatjana ist als jüngstes von drei Geschwistern in Olten aufgewachsen.

«Mein behinderter Bruder hat mir vor dem Schlafen Jesus-Geschichten und Gleichnisse erzählt. Wie gut Jesus war zu allen Menschen – auch zu jenen am Rand der Gesellschaft», erzählt Tatjana Disteli. Da habe sie bereits als etwa Fünfjährige gemerkt: Ihr Bruder sieht seine Situation glasklar.

Schock Krebsdiagnose

Der Glaube half Tatjana Disteli bereits als Kind. Als sie elf war, bekam ihr geistig gesunder Bruder die Krebsdiagnose. Das erschütterte das Mädchen. «Ich merkte: Nichts ist sicher in dieser Welt.» Denn dieser Bruder kümmerte sich viel um sie. Ihre Eltern waren beide selbständig erwerbstätig und oft nicht zuhause.

Trotz seiner Not wusste das Mädchen: Es hatte jemanden zum Reden. Tatjana Disteli zeigt mit dem Finger nach oben. Dank der Gespräche mit Gott verlor sie ihre Angst. «Und mein Bruder wurde wieder gesund.»

«Mystische Stimmung» in Kirche

Als Kind ging Tatjana Disteli mit ihrem Vater zur Kirche – gleich vis-à-vis des Restaurant Salmen – in die römisch-katholische Stadtkirche St. Martin. Sie habe diese «mystische Stimmung» geliebt. Beim aktuellen Besuch der Kirche setzt sie sich in die drittvorderste Kirchenbank. «Hier bin ich meist gesessen», sagt sie.

Die Mutter kam nicht mit, sie ist reformiert. «Sie fühlte sich ausgeschlossen, und ich verstand damals nicht wieso», sagt Tatjana Disteli. Noch heute beschäftigen sie solche Fragen. Sie findet: Die Kirche darf nicht ausschliessen. Sie muss Inklusion leben – alle sollten willkommen sein.

Nach Gottesdienst in den Ausgang

Als Teenager besuchte Tatjana Disteli am Samstagabend den Gottesdienst mit einer Freundin – anders als alle anderen Gleichaltrigen. «Danach gingen wir in den Ausgang», sagt sie und lächelt. Dass sie als Frau ihr Interesse zum Beruf machen könnte, wusste sie damals nicht. «Ich hatte als Mädchen keine Vorbilder», sagt sie. «Als Bub hätte ich eher mit der Theologie angefangen – und wäre wohl Priester geworden.»

Heute sieht sich die Theologin ebenso berufen: «Ja, ich kann mir vorstellen, Priesterin zu sein», antwortet Tatjana Disteli auf die entsprechende Frage.

Als sie 20 Jahre alt war, hatte sie «Glaubenszweifel wie alle anderen auch». Die junge Frau machte eine Berufslehre als medizinisch-technische Laborantin – und stieg ins Gesundheits­wesen ein. Sie arbeitete zunächst im Oltner Kantonsspital.

Blutproben und Menschen

Dort analysierte sie die Blutproben, bevor die Patientinnen und Patienten zur Chemotherapie zugelassen wurden. Und sie nahm sich Zeit für diese Menschen. «Während der Blutentnahme wollten viele mit mir über sehr Persönliches reden», sagt sie. So entdeckte Tatjana Disteli, dass da mehr in ihr steckt. «Ich merkte: Begegnung ist das Schönste im Leben.»

Sie begann ein Theologiestudium in Luzern – als Werkstudentin. Nach dem Abschluss 2005 stieg sie in die Spitalseelsorge am Universitätsspital Zürich ein. Drei Jahre später war sie Leiterin Spitalseelsorge am Zürcher Stadtspital Triemli, dann Dienststellenleiterin der grössten Dienststelle: Spital- und Klinikseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Die Weiterbildung zur Nonprofit-Managerin folgte, und schliesslich wurde sie zur Zusammenführung der Spezialseelsorgebereiche ins Generalvikariat Zürich-Glarus berufen.

«Ich möchte nicht von Karriere sprechen», antwortet Tatjana Disteli auf die entsprechende Frage. Ihre beruflichen Schritte hätten sich jeweils logisch ergeben. Zu Leitungsaufgaben kam sie, weil sie mitwirken wollte, «an dem, was wir das Reich Gottes nennen».

Von der Spitalseelsorgerin zur Generalsekretärin im Aargau

Als Spitalseelsorgerin habe sie dank ihrem Vorwissen aus dem Gesundheitswesen rasch erfasst, was es zu verbessern gelte. Über ihre Wahl zur Generalsekretärin der Aargauer Kirche sagt sie: «Sie war eine Bestätigung meines biografischen Weges.»

Freude hat sie auch an ihrem «liebsten Hobby»: Sie schreibt Kolumnen für die AZ-Medien, etwa die «Aargauer Zeitung», das «Oltener Tagblatt» und die «Solothurer Zeitung» und sagt: «Ich hätte mir früher auch eine journalistische Tätigkeit vorstellen können.»

Für ihre Zukunft hat die 52-Jährige einen Wunsch: «Ich möchte eine glückliche alte Frau werden.» Das sei eine «echte Herausforderung», findet sie. «Ich habe dafür ein tägliches Standardgebet: ‹Zeig mir den Weg.›»

Knuddelstunde mit Nachbars Kater

Helfen könnte ihr dabei auch eine eigene Katze, für die sie wegen ihres Vollzeitpensums aktuell nicht genug Zeit hätte. «Ich habe aber eine Liebesaffäre mit dem Nachbarskater», sagt sie beschwingt. «Er kommt manchmal zu Besuch, dann gibt’s eine Knuddelstunde.»

Und dann ist da noch ihr winziges «Schöberli» im Walliser Lötschental, ein Erbe. «Das ist mein Kraftort, da fühle ich mich alledem näher, als in der Stadt.» (kath.ch)