«Vorfreude erlebt nur, wer warten kann»

Jeden Tag ein Türchen öffnen, jeden Sonntag eine Kerze anzünden: Der Advent ist voller Rituale, die das Warten aufs Christkind erleichtern sollen. Diese Zeit sei «Vorfreude pur», sagt der Philosoph Timo Reuter. Anfang November erschien sein Buch «Warten – eine verlernte Kunst». Im Interview spricht er über Langeweile, digitalen «Sofortismus» und die Vorweihnachtszeit.

Herr Reuter, auf den Bus zu warten fühlt sich anders an als das Warten auf den langersehnten Urlaub. Welche Arten des Wartens würden Sie unterscheiden?

Timo Reuter: Das häufigste Warten ist ein Organisationsdefekt: Die Bahn wartet nur selten auf uns, aber wir müssen auf die Bahn warten, ebenso beim Arzt. Hinzu kommt im digitalen Zeitalter ein ständiges Warten auf Updates, Downloads, neue Nachrichten. Diese alltägliche Form von Warten unterscheidet sich von existenziellem Warten: auf Spenderorgane, Aufenthaltsgenehmigungen oder das Ende von Gewalt und Rassismus. Drittens gibt es ein vorfreudiges, manchmal sehnsüchtiges Warten – etwa auf Weihnachten, auf die grosse Liebe oder die Verwirklichung von Utopien.

Gerade beim alltäglichen Warten werden Menschen zunehmend aggressiv. Warum?

Reuter: Diese Allergie gegen Wartezeiten ist vor allem ein Ausdruck des Zeitgeistes. Das Warten geht oft mit dem Gefühl von Ohnmacht einher: Wer wartet, kann nicht über seine Zeit verfügen – dabei will heute jeder möglichst selbstbestimmt sein. Noch schwerer wiegt, dass Warten als Stillstand empfunden wird. Die Menschen haben immer mehr zu tun, wollen immer mehr erledigen und erleben. Zum Warten bleibt da keine Zeit mehr. Und deshalb gelten die kleinen Zwangspausen als verlorene, nicht als geschenkte Zeit.

Warum ist das so, wenn doch zugleich die Sehnsucht nach Entschleunigung wächst?

Reuter: Zeit ist Geld, diese Logik haben wir verinnerlicht. Da herauszukommen, ist nicht einfach – und zudem ein Luxus. Das gilt nicht nur für Menschen, die auf lebensnotwendige Dinge warten. Auch die alleinerziehende Mutter mit zwei Jobs wird beim Warten nur schwer innehalten können.

In weniger existenziellen Fällen kann Langeweile auch Potenzial bergen.

Reuter: Walter Benjamin hat Langeweile als «Traumvogel» beschrieben, der das Ei der Erfahrung ausbrüte. Im Leerlauf liegt eine Chance: Das Tor zu Musse und Kreativität kann sich öffnen. Die grösste Kunst im Umgang mit Langeweile liegt darin, nichts zu tun. Das kann jeder ausprobieren, wenn der Bus das nächste Mal ohnehin erst dann kommt, wann er will.

Wir sind daran gewöhnt, dass ständig etwas passiert. Wenn nichts passiert, neigen wir zu Übersprungshandlungen, zücken beispielsweise das Smartphone. Wer es aber schafft, einen Moment bewusst nichts zu tun, kann bei den kleinen Dingen des Lebens verweilen, vielleicht etwas Schönes, Überraschendes an einer Bushaltestelle entdecken – oder einfach mal durchatmen.

Was verlieren wir ohne verplante Zeit?

Reuter: Depression und Burn-Out sind heute Massenphänomene. Das hat unter anderem damit zu tun, dass uns Ruhepausen abhandenkommen. Auch zeigen sich derzeit die Folgen der Übernutzung der Natur: Sie wird ausgebeutet, indem wir ihr keine Regenerationszeit zugestehen.

Im Alltag zeigt sich, dass ungeduldiges, überstürztes Handeln oft zu Fehlern führt. Wer komplexe Sachverhalte verstehen will, muss beharrlich bleiben und sich etwa geduldig in ein Buch oder ein Gespräch vertiefen. Nicht zuletzt geht Vorfreude verloren: Sie erlebt nur, wer warten kann.

Skeptiker sehen eine Ursache für mangelnde Vertiefung in den digitalen Medien. Was sagen Sie dazu?

Reuter: Die Digitalisierung trägt jedenfalls zu einem «Sofortismus» bei: Alles soll sofort abrufbar und verfügbar sein. Ungeduld und Rastlosigkeit gab es jedoch schon vor der Digitalisierung, auch wenn sich diese Tendenzen momentan verstärken. Die Ungeduld ist zur DNA unserer Gesellschaft geworden – und das ist in erster Linie ein Ausdruck des Kapitalismus, nicht der Digitalisierung.

Weihnachten nähert sich. Inwiefern hängen das adventliche Warten und bisweilen hohe Erwartungen an Heiligabend zusammen?

Reuter: Die Erwartung füllt das Warten mit Inhalt. Sie bestimmt zugleich, wie wir warten: Wer erwartet, dass der Bus kommt, wann er will, ist entspannter als derjenige, der den Fahrplan genau studiert. Ähnlich ist es mit Weihnachten. Es kann zur Entspannung beitragen, die eigenen Erwartungen zu reflektieren. Weniger ist manchmal mehr: die Zeit mit weniger Terminen füllen – und weniger erwarten. So könnte man zu Weihnachten mit dem Beisammensein mit lieben Menschen zufrieden sein – das ist doch eigentlich der Höhepunkt.

Welche Rolle spielt das Warten in der Religion?

Reuter: Im Christentum, aber auch in anderen Religionen, ist das Warten auf Erlösung zentral. Die Jünger Jesu haben erwartet, dass er zu ihren Lebzeiten zurückkehrt. Aus dieser Naherwartung wurde eine Fernerwartung; die Hoffnung auf Jesu Wiederkehr bleibt aufrecht erhalten. Dadurch wird das Warten zu einer heiligen Zeit, und das spiegelt sich im erwartungsfrohen Advent wider. Dabei kann sich das Warten übrigens auch als Türöffner erweisen.

Inwiefern?

Reuter: Wer auf die Schnelle etwas will, erlebt oft das Erstbeste. Wer dagegen bereit ist, zu warten, macht womöglich tiefere Erfahrungen. Das zeigt die Geschichte mancher Klöster: Früher mussten Anwärter bisweilen tagelang vor den Toren ausharren und zeigen, ob sie ihr Vorhaben ernstmeinen, ob sie würdig sind, aufgenommen zu werden. Geduld und Beharrlichkeit wurden geprüft, bevor sich die Tür öffnete. Auch Freundschaften und Liebe brauchen Zeit zu reifen und zu wachsen – genau wie guter Käse und guter Wein.

Was raten Sie, um den Advent bewusster zu erleben?

Reuter: In meinem Buch schreibe ich vom «Glück der Begegnung». Es lässt sich mit Fremden erleben, aber auch mit Menschen, die einem lieb sind. Der Advent bietet die Chance, Gemeinsamkeit zu geniessen. Zudem kann das Hinauszögern die Vorfreude steigern. Natürlich will niemand ewig auf sein Glück warten, aber wenn wir uns daran erinnern, dass wir nicht alles sofort haben müssen, kann der Advent zu einer schönen Zeit der Vorfreude werden. (kna)