Pedro Lenz: «Ich bin am missionarischen Ansatz gescheitert»

Welche Bedeutung hatte der Glaube für Sie als Kind?

Pedro Lenz*: Eine grosse. Wir haben als Kinder regelmässig vor dem Schlafen ein spezielles Kindergebet auf Spanisch aufgesagt. Meine Mutter hat nur Spanisch mit uns geredet, genauso wie meine spanische Grossmutter. Das ist meine früheste Prägung.

Ich kann noch jede Zeile. In der Übersetzung heisst das Gebet so viel wie: Vier Ecken hat mein Bett, vier Engel hüten meine Seele. Jesuskind, ich habe dich so gern, weil du ein Kind bist, wie ich. Ich schenke dir mein Herz, nimm es, es ist deins, nicht meins.

Nach so langer Zeit können Sie das einfach so abrufen?

Lenz: Das hat sich eingebrannt in mir. Das ist übrigens auch etwas, das mir am Katholizismus gefällt, dass ganz viele Dinge einfach noch da sind aufgrund ihres repetitiven Charakters. Dieses Repetitive entspricht irgendwie meinem Naturell.

Ist Ihre Familie auch immer sonntags mit Ihnen in die Kirche gegangen?

Lenz: Wir sind alle gegangen. Ausser meinem Vater, der kam unregelmässig. Ich habe ihn einmal darauf angesprochen. Er meinte, dass der liebe Gotte schon wolle, dass man jeden Sonntag in die Kirche gehe.

Aber er selbst sei als Kind viel unter der Woche gegangen und darum hätte er jetzt noch Reserven, also quasi ein Guthaben. Das hat mir damals total eingeleuchtet. Ich dachte, wenn ich älter bin, gehe ich auch einmal unter der Woche in den Gottesdienst, damit ich eine Reserve aufbauen kann.

Ihr Plan war es aber dann Ministrant zu werden, um so Guthaben-Punkte zu sammeln…

Lenz: Ich wollte das von mir aus, meine Eltern drängten mich nicht dazu. Sie hatten sogar ein bisschen Angst, dass ich dadurch zu wenig Freizeit hätte. Doch ich mochte die Messe und dachte, als Ministrant bin ich noch aktiver daran beteiligt.

In Langenthal gab es damals neben unserem Pfarrer alle vier bis fünf Jahre einen neuen Vikar. Meistens waren das junge Priester, die auch die Jugend- und Ministrantenarbeit übernommen haben. Das waren aufgestellte, tolle Menschen, die uns motivierten und förderten.

Sie waren auch kurz einmal Religionspädagoge…

Lenz: Genau. Doch vor allem Jugendarbeiter. In diesem Zusammenhang habe ich dann einen  Katecheten-Kurs absolviert sowie den Theologiekurs für katholische Laien (Anm. d. Red. früher TKL, heute Studiengang Theologie). Das waren vier intensive Jahre.

Wie kam es dazu?

Lenz:Ich hatte den Kontakt zu meiner Kirchgemeinde nie abgebrochen. Ich war schon als Kind in der Jungwacht und die Zeit dort war für mich prägend. Mit 16 Jahren wurde ich Gruppenleiter und habe dadurch nochmals eine andere Kirche erlebt. Ich lernte, Lager zu organisieren und zu planen.

Das habe ich viele Jahre gemacht. Als unser damaliger Pfarrer Alois Lingg dann 1987 jemanden für die Jugendarbeit suchte, hat er mich gefragt und mich in Teilzeit angestellt, weil ich damals noch Maurer war. Pfarrer Lingg schlug dann vor, dass ich eine Grundausbildung mache. Da war ich 22 Jahre alt.

Was wollten Sie den Kindern beibringen?

Lenz: Ich habe Oberstufenschülerinnen und -schüler unterrichtet und versucht, den Jugendlichen theologisches Wissen zu vermitteln. Ich habe versucht, diese Inhalte mit ihrer Lebensrealität zu verknüpfen.

Ich bin aber am missionarischen Ansatz gescheitert. Der Pfarrer dachte, mit einer guten Jugendarbeit kann man die Jungen für die Kirche gewinnen. Ich wollte jedoch niemanden überzeugen und nicht steuern, ob jemand gläubig oder fromm wird. Das hat mich immer ein wenig gestört an der Kirche.

Haben Sie deshalb den religiösen Weg nicht weiterverfolgt?

Lenz: Ja auch, aber es gab noch andere Gründe. Als Kantonsleiter von Jungwacht Blauring hatte ich mit anderen Pfarreien zu tun. Unter anderem mit der Pfarrei Utzenstorf und dem inzwischen verstorbenen Pfarrer Adolf Fugel, der in der kürzlich erschienenen Missbrauchsstudie erwähnt wird. Dieser hat uns früher immer abgewertet. Im Sinne von, wir wären amoralisch, weil in unseren Lagern Leiter sowie Leiterinnen im selben Massenschlag übernachteten.

Es gab einige solcher Priester, die unseren Enthusiasmus, den Kindern tolle Erlebnisse mit auf den Weg zu geben, auf diese Art und Weise ausbremsten. Mich hat es aufgeregt, dass selbst die dümmsten Priester stets noch mehr zu sagen hatten als die klügsten Laien. Priester zu werden war deshalb nie eine Option für mich. Auch weil ich wusste, dass das zölibatäre Leben für mich nicht in Frage kommt.

Welchen Bezug haben Sie heute zu Religion?

Lenz: Ich bin gläubig, aber ich rede nicht gerne ungefragt darüber. Mir ist der kollektive Charakter des Glaubens wichtig, nicht die Diskussion darüber, wie man richtig glaubt oder ob man es überhaupt tun muss. Für mich persönlich ist der Glaube etwas Wesentliches.

Wir können die Fragen nach unserem Sinn, wohin unser Leben hinführt und was nach dem Tod passiert, nicht rational beantworten. Ich suche die Antworten darauf im Glauben. In der christlich-katholischen Tradition, die seit 2000 Jahren Bestand hat.

Haben Sie in letzter Zeit – im Zuge der ganzen Missbrauchsdebatte – auch einmal daran gedacht, dem Katholizismus den Rücken zu kehren?

Lenz: Nein, das käme mir nicht in den Sinn. Für mich ist die Kirche grösser und stärker als die Täter. Die Kirche ist Christus. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir Menschen diese Botschaft immer wieder auf verschiedenste Art zerstören.

Doch ich will nicht alleine im Himmel sein. Ich sehe mich als einen Teil von Gottes Volk. Als Teil einer grossen und alten Bewegung. Ich würde nie aus der Kirche austreten wegen Menschen, die diese Bewegung schädigen. Wenn, dann sollten die Täter austreten.

Was muss die Kirche als Institution anders machen, um noch gehört zu werden?

Lenz: Mir ist bewusst, dass ich jetzt aus einer privilegierten weissen Wohlstandsgesellschaft heraus spreche. Doch mit dem Verständnis, das ich auch als Schweizer Staatsbürger habe, wäre es allerhöchste Zeit, das Priestertum radikal zu reformieren. Das bedeutet, den Zugang von Frauen zu allen priesterlichen Funktionen und die sofortige Aufhebung des Pflichtzölibats. Das würde etwas bewirken.

Denn dann wäre die Kirche kein Ort mehr, an dem sich gewisse Männer verstecken können, die irgendein komisches Problem mit Sexualität haben und glauben, sich retten zu können, indem sie in ein zölibatäres System eintreten. Wenn das geöffnet wird und man anfängt, über solche Probleme zu reden, dann passieren weniger schlimme Dinge.

Inwiefern beeinflusst die Religion ab und an auch Ihre Geschichten?

Lenz: Das beeinflusst mich sehr. Ich könnte viele meiner Texte nicht schreiben, wenn ich den katholischen Hintergrund nicht hätte. Ich suche oft Inspiration in meinen Kindheitserinnerungen. Mir hat es sehr gefallen, wenn wir an einem grossen Fest die Heiligen angerufen haben. Oder während der Messe zu wissen, wann das Hochgebet kommt.

Ich bin jemand, der auch viel Bühnenkunst macht. Das Darstellende hat auch einen speziellen Raum, fast wie ein Sakralraum. Man kann sich hier wie dort auf gewisse allgemeingültige Gegebenheiten stützen, die von einer Gemeinschaft getragen werden.

Am Sonntag bekommen Sie den Jonathan-Swift-Literaturpreis in Zürich verliehen.

Lenz: Ja. Der Preis wird für satirisches Schaffen verliehen und das macht einen Teil meiner Literatur aus, aber lange nicht alles. Wenn ich an Jonathan Swift denke und an Satire – nicht im politischen Sinn, sondern im umfassend literarischen – dann passt das für mich und ehrt mich sehr. Zumal ich dort in Gesellschaft von wichtigen vorhergehenden Preisträgerinnen und Preisträgern wie Wolf Haas oder Eva Menasse bin. Das freut mich. (kath.ch)

*Pedro Lenz (58) ist ein Schweizer Schriftsteller, der in Mundart schreibt und vorträgt. Geboren und aufgewachsen ist er in Langenthal BE als Kind eines Ostschweizer Vaters und einer Spanischen Mutter. Lenz lebt mit seiner Familie in Olten. Der mit 20’000 Franken dotierte Jonathan Swift-Preis wird ihm am Vormittag des 19. November 2023 im Literaturhaus Zürich übergeben. (sas)