Was die Kirche vom Fussball lernen könnte

Herr Kelter, freuen Sie sich als Seelsorger und Fussballfan auf die bevorstehende Fussball-Europameisterschaft?

Christian Kelter: Ehrlich gesagt hänge ich emotional noch ein bisschen der Eishockey-WM nach, bei der wir alle so mit dem Schweizer Team gefiebert haben. Das war grossartig! Beim Fussball schlägt mein Herz allerdings schwarz-rot-gold. Nur fehlt mir bis jetzt noch ein bisschen der Glaube an die deutsche Mannschaft. Wie ich mich kenne, kommt die Euphorie dann aber pünktlich zum ersten Spiel.

Was ist denn aus Ihrer Sicht das Spezielle am Fussball, das die Massen elektrisiert?

Kelter: Ich würde hier mit dem Begriff der Resonanz von Hartmut Rosa argumentieren. Resonanz macht er an vier Faktoren fest: Da ist zuerst die Einladung, sich mal auf etwas Anderes einzulassen, zum Beispiel ins Stadion zu gehen oder sich bewusst mit Freunden vor den Fernseher zu setzen. Zweitens lasse ich mich dann von etwas erreichen und anstecken. Da kommt etwas zum Klingen in mir.

Ich merke das vielleicht an meinem Herzschlag oder an meiner Atmung. Es kommt zu Hormonausschüttungen. Der dritte Moment ist eine Art Transformation: Ich komme auf andere Gedanken und in eine andere Stimmung. Als viertes erlebe ich Unverfügbarkeit. Ich kann das, was ich an Resonanz erlebe, nur bedingt oder gar nicht erzwingen oder selbst herstellen. Wir brauchen als Menschen solche Resonanzräume. Sie sind aber selten geworden.

Apropos Massen. Die Kirchen werden immer leerer, die Fussballstadien immer voller. Macht die Kirche da was falsch?

Kelter: Wir erzeugen als Kirche zu wenig Resonanz. Unser Glaube ist zu verkopft und statisch geworden. Es fehlt an Begeisterung und Tiefe. Gerade in Gottesdiensten fehlt es mir oft schlicht an Emotionen. Auch habe ich selten das Gefühl, dass sich die Protagonisten Mühe geben. Wir feiern dann was runter. Ich spitze das jetzt absichtlich zu: Menschen werden bei uns nicht existentiell berührt. Kein Wunder, gehen sie woanders hin.  

Fans glauben an ihre Mannschaft und geben ihrem freudigen Glauben an die eigene Mannschaft Ausdruck durch Fanschals, bunte Choreos, Bengalos und gemeinsame Gesänge. Was könnte sich da die katholische Kirche für Eucharistiefeiern abschauen, damit sie lebendiger, bunter und fröhlicher werden?

Kelter: Das alles hätte Liturgie ja zu bieten! Wir haben Gewänder, Kerzen, Weihrauch, Lieder. Was ist ein Gottesdienst anderes als eine sechzigminütige Choreo? Wir diskutieren das innerkirchlich derzeit an verschiedenen Orten und versuchen uns qualitativ zu steigern. Es wäre eigentlich alles angerichtet, um begeisternde Glaubensfeste zu feiern. Es scheitert aber häufig an der Umsetzung.

Nur ein Gedanke: Wären beispielsweise aus Ihrer Sicht Fanschals für Gläubige denkbar, auf denen wie etwa bei dem des FC Schalke 04 «Wir leben Dich» draufsteht? Oder: «Jesus macht mich stark»? Oder: «Gott gibt mir Hoffnung»?

Kelter: Auch das gibt es längst. Der Schal des Katholikentags in Erfurt hatte die Aufschrift: «Zukunft hat der Mensch des Friedens.» Eine meine Mitarbeiterinnen hat ihren Kindern neulich T-Shirts geschenkt, auf denen stand «Light in the dark.» Wunderbar! Merchandising zeigt Identifikation an. Das ist gut. Aber vor der Identifikation braucht es das Gefühl von Zugehörigkeit. Wie kommen wir dahin, dass sich Menschen in christlichen Gemeinden beheimatet fühlen? Diese Frage treibt mich um.

Als Seelsorger sind Sie der gute Hirte, der sich um seine gläubigen Schafe schützt, sie leitet und für Gott begeistert. Bei manchen Seelsorgern in der Kirche hat man allerdings nicht diesen Eindruck. Was könnten Seelsorgerinnen und Seelsorger von Fussballtrainern lernen in Sachen Motivation?

Kelter: So wie der Trainer das Spiel nicht spielen kann, so kann auch ich das Leben der anderen Menschen nicht leben. Ich sehe meine Aufgabe aber darin, Räume und Spielweisen anzubieten, auf dass Menschen das «Spiel» ihres Lebens und ihres Glaubens so gut wie möglich spielen können. Das heisst, Talente sehen und fördern.

Menschen ermutigen, sich Herausforderungen zu stellen und sie dann gut darin begleiten. Trainer und Seelsorgerinnen sowie Seelsorger haben eine Dienstfunktion. Ob sie gute Arbeit machen, zeigt sich dann auf dem Platz. Entscheidend ist das Spiel und nicht die Trainerbank. Übrigens (schmunzelnd): Fussballtrainer werden auch sehr schnell entlassen, wenn sie nicht reüssieren. Ich bin der Meinung, dass wir uns auch in der Kirche vielmehr an Zielen messen lassen sollten.

Christian Streich, der nun nach Jahren als Bundesliga-Trainer beim SC Freiburg zurückgetreten ist, war extrem beliebt, weil er sich nicht nur zum Fussball ganz authentisch geäussert hat, sondern auch auf sehr direkte und menschliche Art zu allgemeinen gesellschaftlichen Themen. Warum äussern sich Seelsorgerinnen und Seelsorger nicht mehr zu politischen und gesellschaftlichen Problemen? Haben sie Angst?

Kelter: Christian Streich war als Trainerpersönlichkeit herausragend. Er war, wie Sie richtig sagen, authentisch. Deshalb hatten seine Aussagen eine hohe Reichweite. Dass er dabei nicht als Besserwisser rüberkam, machte ihn sympathisch. Menschen wie er inspirieren und motivieren mich. Aber wir können einander nicht kopieren. Was wir trotzdem können: lernen, uns auf gute Art in den Diskurs von Gesellschaft und Welt einzubringen.

Nächstes Jahr findet übrigens in der Schweiz die Fussball-Europameisterschaft der Frauen statt. Zwar verdienen Frauen noch immer deutlich weniger als Männer, aber ansonsten haben sich Frauen im Fussball komplett emanzipiert, werden öffentlich respektiert und gefeiert – ganz im Gegensatz zu den Frauen in der katholischen Kirche. Wie sehen Sie das?

Kelter: Mein Wunsch wäre es gewesen, dass wir als Kirche und aufgrund des Evangeliums Vorreiterinnen in Emanzipation und Gerechtigkeit gewesen wären.

Die Chance hatten wir, aber das Spiel haben wir vergeigt – das tut mir sehr weh. Jetzt müssen wir uns halt aus der Unterklassigkeit nach oben kämpfen. Das ist mühsam. Aber andere Player, wie zum Beispiel der Frauenfussball, zeigen uns, dass es geht und dass es alternativlos ist. Auch wenn der Weg in die 1. Liga immer ein langer Weg ist, ich möchte an meinem Ort alles dafür tun, dass wir ihn gehen. (kath.ch)